Kolumne - Mein Weg nach Tokio: Die dunkle Seite der Ehrlichkeit
Sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, ist eine hohe Kunst, findet unsere Kolumnistin. Vor allem als Sportlerin, wenn man dafür einen Wettkampf absagen muss.
In sieben Monaten, am 24. August 2021, sollen die Paralympischen Spiele in Tokio beginnen. Mit am Start wird die gebürtige Berlinerin Maria Tietze sein. Die inzwischen 31-Jährige begann einst mit dem Fußball als Sportlerin und ist nach einem Unfall und einer Amputation am linken Unterschenkel nun Paralympionikin (und spielt nebenbei immer noch Fußball). An dieser Stelle wird die Sprinterin und Weitspringerin monatlich und dann vor den Spielen in kürzeren Abständen über ihren Weg nach Tokio erzählen.
Haben Sie schon alle guten Neujahrsvorsätze umgesetzt oder gehören Sie eher zu denjenigen, die sie nach ein paar Tagen als unmöglich in den Wind schießen? „Ich will mit dem Rauchen aufhören“, weil man gesund sein möchte. „Ich möchte für eine Gehaltserhöhung schuften“, weil man seine eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen möchte. „Ich beginne gleich am 2. Januar mit einer Online-Fortbildung“, weil man sein Wissen erweitern möchte. „Ich werde weniger Arbeiten“, weil man mehr Zeit mit der Familie verbringen möchte.
Die meisten guten Vorsätze lassen sich wohl auf unsere Kinderstube zurückführen und was unsere Eltern uns mit auf den Lebensweg gegeben haben. In meinem Fall Liebe, Dankbarkeit, Ehrgeiz, Ehrlichkeit, Empathie, Rückhalt und viele mehr.
Sind es nicht solche Werte, die unser Miteinander und auch unser eigenes Leben bestimmen? Jeder wird da seinen Favoriten haben, bei mir ist es die Ehrlichkeit. Nur mit ihr, kann ich anderen Menschen zeigen, wie sehr (oder wenig…) ich sie mag. Bevormunde ich jemanden, stehle ich dieser Person die Möglichkeit sich selbst zu entfalten und stehlen an sich ist schon eine Form der Unehrlichkeit.
Für uns Leistungssportler geht es nach außen relativ offensichtlich natürlich um Ehrgeiz, Durchsetzungsvermögen oder Disziplin. Viele wünschen sich mehr Zeit für die Angehörigen, vertagen das aber auf das Karriereende. Medaillen auf der internationalen Bühne gewinnen sich eben selten mit fünf Stunden Training in der Woche. Ganz weit oben auf unserer Zieleliste steht: Gesundheit. Dafür allerdings ist es unumgänglich ehrlich zu sein. Sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Und das ist für mich die hohe Kunst der Ehrlichkeit.
Denn nur, wenn ich völlig ehrlich zu mir bin, wird mir klar, dass mein Trainer mit dem Trainingsplan recht hatte und ich auch diesen achten schnellen Lauf noch machen kann. Obwohl ich nach Nummer sieben schon vollkommen ausgelaugt neben der Tartanbahn liege und am liebsten dort begraben werden möchte. Nach ein paar Minuten und einem ehrlichen Blick nach Innen kommt oft die Erkenntnis: „Ja, das schaffe ich noch einmal.“ Klar ist auch, dass das nicht endlos zu wiederholen ist. Aber es geht auch nur um diesen einen letzten Trainingslauf. Dieses halbe Prozent, dass dich den Zielsprint gewinnen lässt. Das ist die schöne, glänzende Seite der Ehrlichkeit.
Lieber schweren Herzens einen Tag streichen
Wobei es auch noch ihre dunkle Seite gibt. Es handelt sich um eine Form, die mir persönlich sehr schwer fällt, weil sie sich gegen mich selbst richtet. Hierbei geht es um die Momente, in denen man als verantwortungsvoller Athlet sagen muss: „Heute kann ich nicht trainieren, weil mir die Nase läuft.“ Diese Tage, an denen man sich körperlich eigentlich fit fühlt, aber ein intensives Training die Erkältung so richtig raus holt und man in der Folge nun eine Woche das Bett hütet. Dann doch lieber schweren Herzens diesen einen Tag streichen, sich eigentlich gut fühlen und einfach rumjammern, dass man sich nicht bewegen darf. So ein Leben auf der Couch mit Tee und der Lieblingsserie kann schon hart sein.
Oder noch ein Quäntchen schlimmer. Es ist mitten in der Saison, die Sonne lacht, am Nachmittag steht ein Wettkampf an, auf den man seit Wochen hinarbeitet und sich darauf freut. Familie und Freunde werden da sein, ebenso nationale und internationale Konkurrenz. Ich stehe morgens auf und möchte die Prothese anziehen. Dabei fällt mir ein blauer Fleck am Stumpfende auf. Der kann nur von der Prothese kommen, weil der Schaft nicht richtig saß. Wie man das mit blauen Flecken macht, drücke ich zur Probe drauf und ja, er tut dann weh. Ich bete, dass ich ihn mir in der Alltagsprothese geholt habe, damit ich am Nachmittag einfach in die Sportprothese schlüpfen kann und der Wettkampf nicht ins Wasser fällt.
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Vorsichtshalber verbringe ich den Vormittag auf Krücken und steige erst zum Aufwärmen in die Sportprothese. Meine Gebete wurden nicht erhört, ich habe den Übeltäter gefunden. Ich laufe mich dennoch ein, dehne, mache ein paar koordinative Übungen. Auch den 100-m-Lauf mache ich noch als Vorbelastung mit, es geht ja heute um die 200 Meter. Aber ich muss eingestehen, dass auch 100 Meter zu viel waren. Auf dem blauen Fleck rumzulaufen macht es nicht besser und leider tut jeder Schritt weh.
Zeit ehrlich zu sein und den wichtigen Lauf kurzfristig zugunsten der restlichen Saison absagen. So eine Situation hatte ich im Sommer 2019. Noch dazu saß unsere Bundestrainerin auf der Tribüne. Das war der große Moment mich für die Weltmeisterschaft zu empfehlen. Abzusagen war also doppelt bitter - aber ehrlich. Nach ein paar Tagen konnte ich wieder vernünftig laufen, die folgenden Wettkämpfe bestreiten und bei der WM durfte ich auch starten. Sie hat nicht geschadet, die Ehrlichkeit.
Maria Tietze