Kolumne „Meine Paralympics“: Bein amputieren, um weiter Rollstuhlbasketball spielen zu dürfen?
Wann ist man eigentlich behindert genug, um an den Paralympischen Spielen teilnehmen zu dürfen? Diese Diskussion beschäftigt aktuell den Rollstuhlbasketball.
Das Fantastische an Paralympischen Spielen ist auch, dass man als Beobachter eine enorme Entwicklung in kurzer Zeit mitmacht. Am Anfang nimmt man als Nichtbehinderter all diese Tausenden amputierten, humpelnden, sehbehinderten und anderswie zunächst unkonventionell wirkenden Menschen wahr. Nach wenigen Tagen sind alle körperlichen Einschränkungen dann so was von normal, und man selbst fühlt sich anders, weil, von außen betrachtet, bei einem selbst alles dran ist.
Der frühere Bundessportminister Wolfgang Schäuble (CDU), hat das mal auf den Punkt gebracht, in dem er augenzwinkernd sagte, was ihn betreffe, sehe man es ihm – anders als vielen vermeintlich Nichtbehinderten – zumindest an, dass er behindert sei.
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Doch wann ist man eigentlich behindert genug, um an den Paralympischen Spielen teilnehmen zu dürfen? Diese Frage wird jetzt in der sogenannten Paralympischen Familie diskutiert, und der Grund ist ein Streit um eine neue Klassifizierung, die den Rollstuhlbasketball – immerhin der Publikumsliebling der Sommersportarten –, betrifft.
Denn die bislang zur deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft gehörende Spielerin Barbara Groß darf jetzt nicht mehr international antreten: Nach den neuen Kriterien des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) reicht ihre Behinderung nicht mehr aus; von der gleichen Einschätzung ist unter anderem auch der Brite George Bates betroffen.
Die 26-Jährige aus Gießen war bei der Klassifizierung bisher als minimalbehindert eingruppiert worden. Es war nämlich üblich, dass Fußgänger und Rollifahrer inklusiv spielten und je nach Schwere der Behinderung in einem ausgeklügelten Punktesystem als Mannschaft möglichst auf vergleichbarem Level zusammengestellt wurden. Im Alltag benötigt Groß zwar keinen Rollstuhl, infolge eines schweren Verkehrsunfalls und zahlreichen Operationen konnte sie aber nicht mehr herkömmlichen Sport betreiben.
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Seit fünf Jahren gehört Groß zum Kader des Nationalteams und errang mit ihrer Mannschaft fünf Medaillen bei internationalen Events, wie Gold bei der Europameisterschaft 2015 und bei den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 mit der deutschen Mannschaft Silber. Bei der Heim-WM in Hamburg gewann sie mit dem Team 2018 Bronze. Nach Rio überreichte ihr der damalige Bundespräsidenten Joachim Gauck das Silberne Lorbeerblatt, die höchste sportliche Auszeichnung Deutschlands, so bilanzierte jetzt auch die Deutsche Welle in einem großen Bericht über Barbara Groß.
Nun aber erhielt die Athletin vom Rollstuhlbasketball-Weltverband IWBF die Nachricht, dass sie nicht mehr international spielen darf. Groß war eine von neun Sportlerinnen und Sportlern, die dem neuen „Classification Code“ des IPC nicht standhielten. Demnach passt ihre Behinderung nicht in die jetzt insgesamt zehn Gruppen von Behinderungsarten, die die Klassifizierer sonst lange vor den Spielen, auch während Wettkämpfen, beim jeweiligen Sportler untersuchen. Nach Kritik schon vor rund 20 Jahren habe es an der zuletzt gültigen Klassifizierung gemeinsam mit den Verbänden Aktualisierungen gegeben, sagte der langjährige Chef de Mission der Deutschen Mannschaft, Karl Quade, dem Tagesspiegel auf Anfrage.
Im Auftrag des IPC hatte die IWBF in einem ersten Schritt 132 Rollstuhlbasketballerinnen und -basketballer überprüft. Darunter waren elf Deutsche. Einmal Enttäuschung, siebenmal Erleichterung, so das Bild aus deutscher Sicht. In vier Fällen weltweit gibt es noch keine finale Entscheidung. Wenn diese Neuklassifizierung nicht erfolgt wäre, war damit gedroht worden, Rollstuhlbasketball ganz aus dem Para-Programm zu nehmen.
„Bisher konnte man nur aus dem Sport geworfen werden, wenn man gedopt hatte“
„Bisher konnte man nur aus dem Sport geworfen werden, wenn man gedopt hatte“, sagte Mannschaftsführerin Mareike Miller gegenüber der Deutschen Welle. Rollstuhlbasketball sei eine der inklusivsten Sportarten der Welt, und der Sport und Athleten dürften nicht darunter leiden, dass sie nicht mehr in die Schubladen passten, die das IPC formuliert habe.
Ulf Mehrens, der deutsche Präsident des Verbands, erklärte, der IWBF glaube weiter an seine Klassifizierungsphilosophie und daran, dass der Sport für jeden mit einer anerkannten Beeinträchtigung der unteren Gliedmaßen inklusiv sein sollte. Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), mahnt in Hinblick auf die Spiele in Tokio im kommenden Sommer auch gegenüber dem Tagesspiegel eine faire Lösung an, denn es sei nicht zu akzeptieren, dass Sportler im laufenden paralympischen Zyklus von den Spielen ausgeschlossen würden.
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Das IPC hält den Berichten zufolge indes dagegen, dass es nach mehreren Jahren Diskussion habe handeln müssen und dass die IPC-Generalversammlung den Klassifizierungscode bereits 2015 verabschiedet hatte – und es der Verband sich selbst zuzuschreiben habe, wenn die Umsetzung so kurz vor knapp vor Japan erfolge.
Nun sei eines zur Debatte angemerkt: Solange ich die Paralympischen Spiele kenne, solange gibt es Diskussionen um eine gerechte Eingruppierung in die Starterklassen – die eben immer nur möglichst nah an einer absoluten Gerechtigkeit sein kann, ganz wird es sie – wie auch im Nichtbehindertensport – niemals geben.
Nun überlegen mehrere betroffene Sportlerinnen und Sportler, wie auch Barbara Groß, ob sie Widerspruch einlegen. Auf Change.Org läuft eine Petition, die die neue Klassifizierung revidieren möchte.
Und es gibt noch ganz andere drastische Überlegungen. Zu den neun jetzt ausgeschlossenen internationalen Rollstuhlbasketballern gehört auch der Brite George Bates. Dieser hatte sich als Kind im Alter von elf Jahren beim Fußballspielen schwer verletzt und leidet seitdem an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS). Doch damit, so twitterte Bates, habe er nunmehr die falsche Beeinträchtigung, um weiter auf Weltniveau Rollstuhlbasketball spielen zu dürfen.
Es droht, eine Welt der Sicherheit, Geborgenheit und Bestätigung einzustürzen. Ärzte nannten ihm als eine Option, weitermachen zu können und zu dürfen, sich das chronisch schmerzende Bein amputieren zu lassen: „Wegen der Entscheidung des IPC könnte ich nun gezwungen sein, diese herzzerreißende Option noch einmal zu überdenken“. Auch so eine Ansage höre ich nicht zum ersten Mal. Hoffentlich belässt es der 26-Jährige aber bei seiner Klage gegen den Ausschluss.
Missionschef der deutschen Para-Mannschaft selbst mal betroffen
Übrigens war auch der deutsche Chef de Mission, Karl Quade, selbst mal von Klassifizierungs-Änderungen betroffen, das war vor rund dreißig Jahren, da musste eine Para-Disziplin aufgeben. Barbara Groß' Rollstuhlsportverband und andere Sportler haben nun insgesamt dreißig Tage Zeit, um zu überlegen, wie die sinnvollste Reaktion aus ihrer Sicht auf das Aus ist.