Vor dem Spiel gegen Polen: Die Abschlussschwäche der Deutschen
Die deutsche Offensive hat Potenzial wie kaum ein EM-Team. Gegen die Ukraine war das selten zu sehen. Schüttelt die Nationalelf gegen Polen die Abschlussschwäche ab?
Es gibt Gelegenheiten, die kann sich Lukas Podolski gar nicht entgehen lassen. Die Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft haben gerade ihre Aufwärmrunden durch das Stade Camille Fournier in Évian-les-Bains beendet, da liegt zufälligerweise ein Ball genau vor Podolskis linkem Fuß, halbrechte Position, 25 Meter bis zum Tor. Und zack. Der Ball fliegt durch die Luft, dreht kurz vor dem Ziel nach links ab und rauscht knapp am Tor vorbei. So geht das. Ein paar Stunden vorher, bei der Pressekonferenz nebenan, hat Podolski noch gesagt: „Wir müssen öfter den Abschluss suchen, konsequenter Richtung Tor gehen.“
Gerade bei großen Turnieren, wenn die Nationalmannschaft in ihren geschützten vier Wänden logiert, kommt es schon mal vor, dass die Binnenwahrnehmung sich deutlich abhebt von den Eindrücken der Außenwelt. Bei der Beurteilung der deutschen Offensivleistung im ersten EM-Spiel scheint hingegen seltene Einigkeit zu bestehen: Es gibt durchaus noch Optimierungsbedarf. „Wir hatten ein paar Möglichkeiten, aber dieses Zwingende war noch nicht da“, sagt Podolski im Rückblick auf den 2:0-Sieg gegen die Ukraine.
Das erste Tor der Deutschen resultierte aus einem Freistoß, das zweite fiel in der Nachspielzeit nach einem Konter, als die Ukrainer jegliche defensive Absicherung vernachlässigten. Sonst gelang der Offensive des Weltmeisters, die über so viele Möglichkeiten verfügt wie wenige andere Nationen, wenig bis gar nichts. „Wir haben eine offensive Qualität, die muss man erst mal finden und suchen“, sagt Podolski. Im Moment scheint die Mannschaft diese Qualität noch zu suchen.
Thomas Müller fehlt ein wenig die Leichtigkeit
Julian Draxler, der den verletzten Marco Reus auf der linken Seite ersetzte, hinterließ gegen die Ukraine von den vier Offensivspielern noch den zwingendsten Eindruck. Er kam auf immerhin drei Torschüsse. Bei Mario Götze, der nominellen Sturmspitze, waren es zwei, Mesut Özil und Thomas Müller schossen nur je einmal Richtung Tor. Bis zu Müllers Versuch dauerte es elendig lange 75 Minuten. Überhaupt schien das Spiel den Eindruck zu bestätigen, dass dem Münchner gerade ein wenig die Leichtigkeit und Unbeschwertheit fehlen, die sein Spiel sonst auszeichnen.
Vielleicht ist das nur eine Momentaufnahme, vielleicht sieht es schon heute gegen Polen (21 Uhr/ZDF) wieder ganz anders aus, auch wenn in der Außenwelt längst Zusammenhänge konstruiert werden, die in der realen Welt nicht existieren. Ob die deutsche Mannschaft denn mal ein Müller-Tor bei der EM brauche, wurde Thomas Müller in der vergangenen Woche gefragt. „Es wäre vielleicht nicht schlecht“, antwortete er. „Aber es wurden schon Europameisterschaften ohne ein Müller-Tor gewonnen.“ Eine komische Vorstellung ist es trotzdem.
Gegen die Ukraine wiesen die vier deutschen Offensivspieler Passquoten zwischen 81 und 93 Prozent auf. Das sind auf den ersten Blick durchaus erfreuliche Werte; auf den zweiten verweisen sie auf mangelnden Wagemut im Spiel nach vorne, zeugen von zu viel Sicherheitsdenken und zu wenig Risikobereitschaft. Der ukrainische Strafraum wurde kaum penetriert; das flirrende Kombinationsspiel, mit dem es die Deutschen auch gerne mal übertreiben, fand kaum statt. Die besten Gelegenheiten hatten neben Özil in der Schlussphase der Linksverteidiger Jonas Hector und Sami Khedira, der defensive Mittelfeldspieler.
„Was wir noch verbessern müssen, ist, dass wir auch zum Abschluss kommen“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Manchmal haben wir den Moment um eine Zehntelsekunde verpasst.“ Vor allem Mesut Özil dürfte dieser Hinweis gegolten haben, von dem Löw noch am Tag vor dem Spiel gesagt hatte, dass er in überragender Verfassung war. Belegen konnte er das erst in der Nachspielzeit, als er mit seinem perfekten Zuspiel das 2:0 von Bastian Schweinsteiger vorbereitete.
Mario Götze war gegen die Ukraine eher ein Neutrum
Natürlich befeuert so ein Spiel wie das gegen die Ukraine auch die ewige Debatte um die perfekte Besetzung im Sturm: falsche oder echte Neun? Mario Götze also oder Mario Gomez? „Die Diskussion läuft seit vier Jahren, und keiner weiß eigentlich, was eine falsche Neun ist“, sagt Thomas Müller. „Falsche Neun ist Lionel Messi, der sich ein bisschen fallen lässt, vier Spieler ausdribbelt und dann ein Tor vorbereitet. Eine richtige Neun ist einer, der sich nicht fallen lässt und trotzdem Tore schießt.“ Nach dieser Definition wäre Götze am Sonntag weder falsche noch richtige Neun gewesen, sondern eher ein Neutrum.
Mitte der ersten Halbzeit gab es im Spiel eine Phase, in der Götze 18 Minuten und 26 Sekunden kein einziges Mal am Ball war. Zeitweise wirkte es so, als hätte niemand der Mannschaft mitgeteilt, dass nicht der wuchtige Gomez im Sturm spielt, den man mit Flanken füttern muss. Die Bälle flogen so hoch durch den Strafraum, dass sich der kleine Götze vermutlich eine Genickstarre holte. „Wenn ein Stürmer spielt, der sich nur im Strafraum aufhält, und nicht trifft, wird ihm vorgehalten, er beteiligt sich nicht am Spiel, er arbeitet nicht und hilft der Mannschaft eigentlich gar nicht weiter. Wenn man mit einem quirligen Spieler vorne drin spielt, heißt es, der ist für Flanken ungeeignet“, sagt Thomas Müller. „Eigentlich wird immer das Negative gesucht.“
Was hiermit mal wieder bewiesen wäre.
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