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Drin! Frank Lampards Schuss landete bei der WM 2010 im Tor, doch der Schiedsrichter erkannte es nicht an – 1966 war es genau andersherum.
© Reuters/Eddie Keogh

Länderspiel im Olympiastadion Berlin: Deutschland - England: Das ewige Fußballduell

Deutschland gegen England ist ein besonderer Fußball-Klassiker. Zum 34. Mal treffen die beiden Teams aufeinander - wir blicken zurück auf große Spiele und merkwürdige Randerscheinungen.

Die beiden wichtigsten Spieler der Premier League waren nicht dabei, als Englands Fußball-Nationalmannschaft am Samstagabend im Olympiastadion vorstellig wurde. Es handelte sich dabei nicht um die neu entdeckten Angriffsbegabungen Jamie Vardy (Leicester) und Harry Kane (Tottenham), die hatten sehr wohl die Reise nach Berlin angetreten, wie auch Liverpools James Milner, Chelseas Gary Cahill oder Raheem Sterling von Manchester City. Wer fehlte, das waren Jeremy Darroch und Gavin Patterson. Zwei Namen, die nicht jedem Fußballfan geläufig sind. Aber ohne Jeremy Darroch und Gavin Patterson wäre der englische Fußball nicht, wie er ist.

Der eine steht dem Privatsender Sky vor, der andere der von Margaret Thatcher privatisierten British Telecom, und das Wettbieten der beiden Anbieter hat die Premier League über einen milliardenschweren Fernsehvertrag zur mit Abstand reichsten Fußball-Liga der Welt gemacht. Mit allen Konsequenzen – für den englischen Nachwuchs, der es immer schwerer hat, sich daheim durchzusetzen. Aber auch für die europäische Konkurrenz, in Spanien, Italien und natürlich Deutschland. Die Bundesliga erfreut sich gern ihrer schönen Stadien, der tollen Stimmung und perfekten Nachwuchsarbeit. Aber natürlich herrscht da bei den Klubs zwischen Hamburg und Stuttgart auch eine gewisse Grundangst, dass die schwerreichen Engländer mit ihrem Geld mittelfristig Fakten schaffen, die eine Zweiklassengesellschaft im Top-Segment des europäischen Fußballs zur dauerhaften Folge haben könnten.

Das Copyright für die Formulierung mit den Fernsehchefs Darroch und Patterson als wichtigsten Spielern gebührt Christian Seifert. Der Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL) interessiert sich naturgemäß mehr für die Belange der Klubs als die der Nationalmannschaft. Aber Seifert weiß auch, wie sehr sein Unternehmen von den Erfolgen profitiert, die Deutschlands oberster Fußballlehrer Joachim Löw mit seiner Mannschaft einfährt. Umgekehrt ist die Nationalmannschaft angewiesen auf das in der Bundesliga ausgebildete Personal. Bei so viel Wechselwirkung kommt einem Länderspiel wie dem am Samstag in Berlin doppelte Bedeutung zu. Wann immer Deutschland gegen England kickt, tritt auch die Bundesliga gegen die Premier League an.

Die Kräfteverhältnisse auf dem Rasen sind sehr viel ausgeglichener als in den Geschäftsberichten. Das war nicht immer so, erst recht nicht mit Vorteilen für die deutsche Seite, wie sie in den vergangenen Jahren zu verzeichnen waren. Das Spiel am Samstag war das 34. zwischen beiden Nationen, so definiert es jedenfalls die deutsche Statistik, die mit einem ersten Aufeinandertreffen am 20. April 1908 beginnt. Gespielt wurde damals in der noch nicht zu Berlin gehörenden Landgemeinde Mariendorf, auf dem alten Viktoria-Platz an der Eisenacher Straße. Die Engländer hielten allerdings nicht besonders viel von den Deutschen. Also schicken sie nur eine drittklassige Amateurvereinsmannschaft, so dass der englische Verband die deutsche Heimspielpremiere in seiner Statistik bis heute nicht als echtes Länderspiel auflistet. Das Ergebnis von Mariendorf gibt ihnen so Unrecht nicht. Die englischen Amateure siegten leicht und locker 5:1, und dass der beste Deutsche der Berliner Torhüter Paul Eichelmann war, spricht auch nicht gerade für das frühe Niveau des heutigen Weltmeisters.

Es vergingen drei weitere Spiele und 22 Jahre, ehe die Engländer zum ersten Mal ihre Profis zu den Deutschen schickten. Über 50 000 Zuschauer kamen am 10. Mai 1930 ins Deutsche Stadion auf der Rennbahn im Grunewald (wo heute das Olympiastadion steht), um Stars wie David Jack vom FC Arsenal oder Vic Watson von West Ham United zu sehen. Der Held des Tages war aber ein einohriger Sachse. Richard Hofmann vom Dresdner SC schoss beim 3:3 alle drei deutschen Tore und hätte der besten Mannschaft der Welt beinahe eine Niederlage beigebracht. Von Hofmann hieß es damals, er könne wahlweise Latte oder Pfosten kaputt und einen Torhüter samt Ball ins Netz schießen. Zwei Monate vor dem Spiel gegen England hatte er bei einem Autounfall eine Ohrmuschel eingebüßt, so dass er mit einer Kopfbinde spielte, was seine englischen Gegner vielleicht etwas verschreckte.

Vier Jahre später war die deutsche Mannschaft auf der Höhe ihrer Schaffenskraft, aber ihr bester Stürmer durfte nicht mit zur Weltmeisterschaft 1934 in Italien. Die Nazis sperrten Richard Hofmann, weil er für Zigaretten Werbung gemacht und damit gegen das heilige Amateurstatut verstoßen hatte. Die brauen Machthaber waren ohnehin nicht als Fußballfreunde bekannt, und spätestens mit dem nächsten Länderspiel gegen die Engländer im neuen Olympiastadion verfestigte sich diese Antipathie zu offener Ablehnung. Das war am 14. Mai 1938, als die Zeichen in Europa schon auf Krieg standen. Zwei Monate zuvor hatte sich Hitlerdeutschland Österreich einverleibt, aber Englands Premierminister Neville Chamberlain hoffte immer noch auf einen Erfolg seiner Beschwichtigungspolitik. Das ging soweit, dass die Politik die englischen Spieler vor ihren Karren spannte.

Als beide Mannschaften vor 110 000 Zuschauern im Mittelkreis Aufstellung nahmen, reckten nicht nur die deutschen, sondern auch die englischen Spieler den rechten Arm zum Hitler-Gruß in Richtung Führerloge. Das Foto der stramm salutierenden Fußballspieler gilt noch heute als Dokument für die gescheiterte britische Appeasement-Politik. Es ist nicht zweifelsfrei belegt, ob nun der englische Verband oder der Botschafter oder Chamberlain höchstpersönlich die Anordnung zu dieser Grußadresse gegeben hatte. Es heißt, die englischen Spieler seien alle dagegen gewesen. Entsprechend wütend spielten sie im sportlichen Teil des Spektakels auf und siegten 6:3. Die „Times“ rezitierte genüsslich ein Spiel, „das so brillant gewonnen wurde, dass die Nazis mit stotternden Flüchen in der Führerloge zurückblieben“. Das für 1939 in London verabredete Rückspiel fiel aus den bekannten Gründen aus.

In der Bundesliga herrscht eine gewisse Angst vor den reichen englischen Klubs

Das nächste denkwürdige Spiel zwischen Deutschland und England fand 1966 statt, diesmal nicht in Berlin, sondern in London. Es war das berühmte WM-Endspiel im alten Wembley-Stadion. Das finale Drama in der Verlängerung begann beim Stand von 2:2 mit einem verunglückten Abschlag des deutschen Torhüters Hans Tilkowski. Der Ball flog in den Lauf von Alan Ball, dessen Flanke Geoffrey Hurst gegen die Unterkante der Latte wuchtete, bis ihn dann der deutsche Verteidiger Wolfgang Weber ins Aus beförderte. Tor? Kein Tor? Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst war sich nicht sicher und konsultierte seinen sowjetischen Assistenten Tofik Bachramow. Dessen Entscheidung ist bekannt, der zu diesem Zeitpunkt schon etwas senile Bundespräsident Heinrich Lübke kommentierte sie so: „Jeder hat gesehen, dass der Ball im Netz gezappelt hat!“ Am Ende gewannen die Engländer 4:2. Es war der erste und bislang einzige große Turniersieg der ewigen Fußballnation, und er steht für alle Zeiten im Zeichen des Wembley-Tors, das doch gar keines war, wie später ausgewertete Kameraaufnahmen zweifelsfrei ergaben.

Sie können auch richtig gewinnen. In der WM-Qualifikation 2001 gelang den Engländern, hier Steven Gerrard beim Schuss, ein furioser 5:1-Sieg in München.
Sie können auch richtig gewinnen. In der WM-Qualifikation 2001 gelang den Engländern, hier Steven Gerrard beim Schuss, ein furioser 5:1-Sieg in München.
© Reuters

Die Deutschen revanchierten sich. Erst 1970 bei der WM in Mexiko, als die Engländer im Viertelfinale von Leon schon 2:0 führten und noch 2:3 in der Verlängerung verloren. Und dann noch mal zwei Jahre später im Viertelfinale der Europameisterschaft 1972, als Günter Netzer zum ersten Mal aus der Tiefe des Raums kam. Die Geschichtsschreibung verklärt dieses 3:1, den ersten deutschen Sieg auf dem heiligen Rasen von Wembley zu einem Triumph der Offensive. Das war er nicht. Eher trifft Franz Beckenbauers Urteil zu, die Deutschen hätten eine Leistung geboten, „bei der fast alles stimmte: die kämpferische Einstellung, das Kombinationsspiel, die Raumaufteilung und die Spielverlagerung“. Als neutraler Beobachter schwärmte die französische Zeitung „L’Équipe“ von „Traumfußball aus dem Jahr 2000“. Das Spiel war ein Versprechen für die Zukunft: Erfolgreicher Fußball konnte intelligent, und intelligenter Fußball konnte auch schön sein.

Von Intelligenz konnte nicht die Rede sein, als sich die Deutschen den alten Lieblingsfeind für den 20. April 1994 nach Hamburg einluden. Reichlich spät fiel den Hamburger Gastgebern auf, dass Hitlers Geburtstag kein optimaler Termin für ein Großereignis mit Publikum war. In der deutschen Fanszene tummelten sich in den Neunziger Jahren rechte Agitatoren. Als im Januar bekannt wurde, dass neofaschistische Gruppen das Spiel zu einer Gedenkfeier umfunktionieren wollten, gab die Stadt Hamburg das Spiel an den DFB zurück – mit dem Argument, die Sicherheit der Spieler könne nicht garantiert werden. Berlin bot sich Ersatzausrichter an und sah auch dann noch kein Problem, als Englands auflagenstarke Boulevardblätter Hakenkreuze auf ihren Titelseiten druckten und Massenschlägereien zwischen deutschen und englischen Hooligans prophezeiten. Als auch das britische Außenministerium vor dem Spiel warnte, hatte der englische Fußballverband genug und sagte ab.

Seitdem haben sie noch acht Mal gegeneinander gespielt, in Freundschaft, bei Europa- und Weltmeisterschaften, und das am meisten Aufregung erregende Duell fand am 27. Juni 2010 in Bloemfontein statt. Im Achtelfinale der Weltmeisterschaft von Südafrika. Deutschland führte 2:1, aber die Engländer drückten, und dann schoss Frank Lampard aus der Distanz aufs deutsche Tor. Der Ball prallte wie 1966 in Wembley an die Unterkante der Latte und sprang dann so offensichtlich hinter der Torlinie auf, dass es auch aus dem Oberring des Stadions gut zu sehen war. Schieds- und Linienrichter aber hatten nichts gesehen, sie ließen das Spiel laufen und ignorierten die wütenden Proteste der Engländer. Ein eigenartiges und gegenteiliges Äquivalent zum sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow, der 1966 in Wembley auf Tor erkannt hatte, wo kein Tor war.

Am Ende gewannen die Deutschen 4:1 und die Welt machte daraus eine Revanche für Wembley. War es das? Das Wort hat als Kronzeuge Wolfgang Weber, der deutsche Verteidiger, der damals als nächster am Tatort stand und den abprallenden Ball mit dem Kopf ins Toraus beförderte. Im Interview mit dem Tagesspiegel hat er sich dazu recht deutlich positioniert: „Sie wollen jetzt wissen, ob ich Genugtuung empfinde? Nein. Dafür war Lampards Schuss zu eindeutig. Der Ball war ja einen Meter im Tor. Das hätte wahrscheinlich sogar der Bachramow erkannt.“

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