England gegen Deutschland: Die Lieblingsfeindschaft begann vor 108 Jahren
England gegen Deutschland, das ist eine lange Geschichte. Sie begann in Mariendorf, vor beinahe 108 Jahren. Ein Spaziergang.
Die Wahrheit liegt auf dem Platz, verkündet eine Fußballweisheit aus der guten, alten Zeit, und um die geht es immer mal wieder, wenn die Lieblingsfeinde Deutschland und England zum Fußballspielen zusammenkommen. Das Länderspiel am Samstagabend im Olympiastadion ist das 34. zwischen beiden Nationalmannschaften, und wer weiß schon, dass auch das erste in Berlin stattfand. Vor bald 108 Jahren, als es noch kein Olympiastadion gab. Genau genommen wurde am 20. April 1908 nicht mal in Berlin gespielt, sondern in der damals noch selbstständigen Landgemeinde Mariendorf.
Zur Premiere lud der Deutsche Fußball-Bund elf Hobbyspieler aus Berlin, Braunschweig, Hamburg, Pforzheim, Düsseldorf und Karlsruhe auf den heute längst abgetragenen Viktoria-Platz an der Eisenacher Straße. England schickte eine drittklassige Amateurmannschaft, aber das hatte sich nicht bis nach Berlin herumgesprochen und schon gar nicht nach Mariendorf. Der Reporter der „Mariendorfer Zeitung“ notierte eine „selten große Zuschauermenge“ von 6000 Menschen. Und dass es geschneit hat am Ostermontag des Jahres 1908, auch dies ein wesentlicher Unterschied zum angekündigten Sonnenschein am Ostersamstag 2016.
Fußball war eine bürgerliche Veranstaltung
Also: auf den Platz! Durch das weit offen stehende Tor hinein zu Aldo und Jafaar, den Hütern der Wahrheit. Wussten Sie, was hier früher mal ... „Na klar, ein Fußballplatz“, sagt Aldo, und natürlich kennt er auch die Geschichte vom ersten Länderspiel gegen England. Woher? „Von den Gästen, viele ältere Leute“, die auch gern deshalb in die Pizzeria Sempre der Brüder Aldo und Jafaar kommen, weil sie auf dem Grund eines heiligen Platzes steht. Dort, wo die Mariendorfer Löwen des Berliner Thorball- und Fußball-Clubs Viktoria von 1889 den deutschen Fußball in seinen Gründerjahren so dominierten, wie man es heute vom FC Bayern München kennt. Zwischen 1907 und 1911 gewann Viktoria zweimal die Deutsche Meisterschaft und zog zwei weitere Male ins Endspiel ein.
Fußball war vor dem Ersten Weltkrieg noch eine durch und durch bürgerliche Veranstaltung und Viktoria ein reicher Verein. Die Platzanlage an der Eisenacher Straße mit ihren eleganten Holztribünen befand sich in Klubbesitz, war eine der größten in ganz Deutschland und wurde vom DFB mit der Ehre bedacht, das erste Heimspiel der deutschen Länderspielgeschichte auszurichten. Wenig erinnert dort heute an diese Zeit. In der Eisenacher Straße ist Mariendorf wie Mariendorf eben ist. Eher verschlafen als ruhig, und nicht nur geografisch meilenweit entfernt vom hippen Party-Berlin in Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain. Dort, wo sich zwischen Eisenacher Straße und Westphalweg der Viktoria-Platz befand, reihen sich heute pastellfarbene Wohnhausklötzchen aneinander. Dreigeschosser aus den späten Sechziger Jahren, luftig angeordnet, mit viel Grün drumherum. Weiter hinten gibt es ein paar Tennisplätze, lustigerweise sind sie grün eingefärbt, was ein wenig an den Fußballrasen der Vergangenheit erinnert.
Keine Duschen für die Spieler
Die Legende will es, dass der DFB die englischen Gäste zur Heimspiel-Premiere vor 108 Jahren gleich nach der Ankunft am Stettiner Bahnhof ins Metropol-Theater zur Revue von Fritzi Massary verfrachtete. Half alles nichts. Die englischen Spieler waren auch nach intensiver Bekanntschaft mit dem Berliner Nachtleben am nächsten Tag topfit, und sie störten sich auch nicht an der bescheidenen Infrastruktur. Weil es an der Eisenacher Straße keine Duschen gab, mussten die Spieler über eine Hühnerleiter klettern und sich dann an fünf Waschschüsseln einer eiligen Katzenwäsche im Schneetreiben unterziehen.
Der Reporter der „Mariendorfer Zeitung“ notierte: „Leider wies die Aufstellung der Deutschen verschiedene Lücken auf.“ Die Mannschaft habe „sehr mangelhaft“ gespielt, bis auf die vier Berliner Abwehrspieler – „alle hervorragend“ –, was ein wenig seltsam klingt nach einer 1:5-Niederlage. Der beste Deutsche kam aus Mariendorf und stand im Tor. Paul Eichelmann wurde sogar von den englischen Reportern als fangendes Wunder gefeiert. Der Mann von Viktorias Ortsrivalen Union 92 versuchte sich später als Profi auf der Insel, doch weil er ein recht lockeres Verhältnis zu alkoholhaltigen Erfrischungsgetränken pflegte, landete er schnell wieder in Berlin.
Von Fußballplatz über Baseballfeld zum Tennisplatz
In Mariendorf waren in den Folgejahren noch zwei weitere Spiele gegen England zu sehen. Am 4. April 1911 gab es auf dem Union-Platz an der Rathausstraße ein sensationelles 2:2, zwei Jahre später ein 0:3 wieder bei Viktoria, diesmal sollen sogar 17 000 Zuschauer dabei gewesen sein. Danach verabschiedete sich Mariendorf aus der deutschen Länderspielgeschichte und ist bis jetzt nicht mehr zurückgekommen. Auch mit Viktoria war nicht mehr viel anzufangen. Der Platz an der Eisenacher Straße blieb noch bis 1964 in Vereinsbesitz, aber große Fußballspiele hat er nicht mehr gesehen. Das Holz der einst so eleganten Tribünen heizte in den letzten Kriegswintern Mariendorfer Wohnungen, dann wurde der Platz von der US-Armee beschlagnahmt und in ein Baseballfeld umgewandelt. Viktoria zog in die Bosestraße nach Tempelhof und verkaufte den Vereinsplatz schließlich an den Senat.
Seit den späten Sechziger Jahren stehen dort jetzt grüne Tennisplätze, pastellfarbene Wohnklötzchen und das etwas größere Haus, das die Pizzeria von Aldo und Jafaar beherbergt. Für den Samstagvormittag haben sie die Terrasse herausgeputzt. Es soll schließlich die Sonne erscheinen und dann kommt auch noch hoher Besuch vorbei. Bernd Schultz, der Präsident des Berliner Fußball-Verbandes, hält eine Rede zur Einweihung einer hübsch gestalteten Informationstafel, sie verweist auf das Fußballspiel vor 108 Jahren und auf den Viktoria-Platz, den es nicht mehr gibt. „Vielleicht kommt auch noch einer vom DFB mit“, sagt Aldo, sind ja genug da wegen des Länderspiels am Abend. Nähere Informationen habe er noch nicht erhalten, aber ein paar Flaschen Sekt werden schon bereitstehen.
Danach wird es wohl wieder eher verschlafen als ruhig werden in Mariendorf. Bis dann wieder die Gedenktag-Touristen durch die Eisenacher Straße ziehen. Sie kommen aus Australien, Kanada oder den USA und interessieren sich doch wenig für den Ostermontag des Jahres 1908 und das erste Heimspiel der deutschen Nationalmannschaft. Auch sie zieht es auf den Platz: Durch das weit offen stehende Tor, dann links und rechts und an der Bank noch mal nach links, vorbei an der dicken Tanne bis zur allein stehenden Birke. Vor dem Gedenkstein wachen eine frisch eingetopfte Sonnenblume und ein Porzellanvögelchen über... das Grab von Ulrike Meinhof. Auf der anderen Seite der Eisenacher Straße, direkt gegenüber der Pizzeria Sempre. Zur Beerdigung der RAF-Mitbegründerin am 16. Mai 1976 kamen rund 4000 Trauergäste auf den Dreifaltigkeitsfriedhof.
Aber das ist eine andere Geschichte.