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Er trifft und trifft und trifft. Dennoch muss sich Ciro Immobile viel Kritik anhören.
© Alberto Lingria/REUTERS

Italiens umstrittener Torjäger: Der seltsame Fall des Dr. Ciro und Mr. Immobile

Ciro Immobile hat in den vergangenen Jahren so oft getroffen wie nur Messi, Ronaldo und Lewandowski. Nun will er seine Klasse auf der großen Bühne bestätigen.

Lionel Messi, Robert Lewandowski, Cristiano Ronaldo. In den vergangenen fünf Spielzeiten haben in den großen europäischen Ligen einzig und allein die drei Weltfußballer mehr Tore erzielt als Ciro Immobile. Dennoch hat der Stürmer von Lazio Rom ein massives Imageproblem, das sein Nationalmannschaftskollege Alessandro Florenzi vor einem Jahr treffend zusammengefasst hat. „Ciro hat 36 Tore für Lazio gemacht und den Goldenen Schuh gewonnen. Wenn er in einem anderen Land geboren wäre, wäre er ein Nationalheld“, sagte Florenzi. In Italien fehle hingegen die Wertschätzung für den Torjäger.

Daran hat sich auch vor dem EM-Achtelfinale gegen Österreich am Samstag (21 Uhr/ ZDF) nicht viel geändert. Dass der 31-Jährige aus der Nähe Neapels in zwei Vorrundenspielen zwei Treffer erzielte, konnten seine Kritiker schnell relativieren. Denn Immobile traf in Rom, im Stadio Olimpico, zu Hause. Bei Lazio hat der Stürmer mehr Tore erzielt als jeder andere in der Vereinsgeschichte, er war drei Mal Torschützenkönig in der Serie A und einmal in der Serie B. Im Land des Fußballpragmatismus sollten diese Statistiken eigentlich ausreichen für den Status als anerkannter Spitzenspieler.

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Doch anders als etwa Luca Toni oder Filippo Inzaghi, denen in der öffentlichen Wahrnehmung aufgrund ihres Torriechers alle fußballerischen Mängel verziehen wurden, finden Fans und Medien bei Immobile immer etwas zu mäkeln. So sei er nicht spielstark genug, könne bei Lazio nur deshalb glänzen, weil das ganze System auf ihn ausgerichtet sei, treffe vor allem gegen die kleinen Gegner – und sei ein Wohlfühlmensch, der außerhalb seiner Komfortzone keine Leistung bringe.

Während die fußballerische Kritik angesichts seiner Bilanz und des spielerischen Reifeprozesses, den er in den vergangenen Jahren durchlaufen hat, kaum haltbar ist, fällt die charakterliche Einordnung deutlich schwerer. Vergleicht man Immobiles Leistungen bei Lazio und beim AC Turin mit jenen im Ausland wirkt es, als hätte er wie Doktor Jekyll und Mr. Hyde in der berühmten Novelle von Robert Louis Stevenson zwei völlig unterschiedliche Identitäten: hier der stets gut gelaunte Torjäger, dort der glücklose Einzelgänger.

Bei Borussia Dortmund lief es gar nicht

Grund für dieses Image ist vor allem seine kurze Zeit bei Borussia Dortmund. Fast 20 Millionen Euro gab der BVB 2014 aus und Immobile sollte als amtierender Torschützenkönig der Serie A den nach München gewechselten Lewandowski ersetzen. Nach insgesamt 34 Spielen und zehn Toren endete das große Missverständnis im Unfrieden. „Die Deutschen sind kalt. In acht Monaten hat mich kein Mitspieler nach Hause zum Essen eingeladen“, beklagte sich Immobile.

Doch auch im kulturell und meteorologisch wärmeren Sevilla konnte sich der Stürmer nicht durchsetzen. Bei Lazio hat er seit 2016 seine fußballerische Heimat gefunden. Ins Ausland möchte er nicht mehr wechseln, das hat er kürzlich erst wieder bekräftigt.

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Dass die Squadra Azzurra Rom nach der beeindruckenden Vorrunde nun in Richtung London verlassen musste, ist auf den ersten Blick also keine gute Nachricht. Doch die Erzählungen und Beobachtungen aus dem Camp der italienischen Mannschaft machen Hoffnung auf weitere Tore des Wohlfühlstürmers. Trainer Roberto Mancini hat ein Team zusammengestellt, das sich offenbar blendend versteht – und schenkt Immobile viel Vertrauen.

Mit Linksaußen Lorenzo Insigne und Mittelfeldregisseur Marco Verratti ist der Stürmer zudem auf und abseits des Feldes von zwei seiner besten Freunde im Fußballgeschäft umgeben. Gemeinsam schafften die drei 2011/12 den Durchbruch, als sie das kleine Pescara mit begeisterndem Fußball in die Serie A führten. Nun sollen sie bei der EM ähnlich glänzen, denn das Ziel heißt Wembley – und gemeint ist damit nicht das Achtelfinale gegen Österreich, sondern das Endspiel am 11. Juli.

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