Sebastian Vettel steht bei Ferrari unter Druck: Charles Leclerc bereitet den Führungswechsel vor
Sebastian Vettel muss sich seinem jungen Konkurrenten stellen. Dabei musste Charles Leclerc schon viele tragische Momente verkraften.
Im Prinzip ist in der Formel 1 alles geklärt. In allen relevanten Wertungen führt Mercedes, was im Übrigen in den Jahren zuvor schon genauso war. Für Ferrari, das gerne so erfolgreich wie Mercedes wäre, kann es deshalb nur gut sein, dass es noch ein paar irrelevante Wertungen gibt.
Die Mythos-Wertung zum Beispiel, in der die 90 Jahre alte Scuderia allen anderen Teams so kräftig davongaloppiert wie es das eigene Wappentier, ein schwarzes Pferd mit wehender Mähne, verspricht. Das prachtvolle Tier nennen die Italiener cavallino rampante, ein sich aufbäumendes Pferdchen.
Aufgebäumt hat sich das Pferdchen in dieser Saison allerdings selten, die Autos, auf denen es prangt, lahmten zu oft, und wenn es doch mal auf Trab war, irrten Stallbesitzer oder Reiter oder beide – bis zum vergangenen Wochenende. Da gelang dem jungen Charles Leclerc in Spa-Francorchamps mit dem alten Gaul ein feiner Ritt. Es war Ferraris erster Saisonsieg im 13. Lauf, er gelang pünktlich vor dem Heimrennen im mythischen Monza.
Allerdings hat Leclercs Sieg kaum für Ruhe gesorgt. Im Gegenteil. Über keinen anderen Rennstall wird so intensiv und lustvoll debattiert wie über Ferrari, noch eine Wertung, die stets zuverlässig an die Italiener geht. Bleiben die Erfolge aus, herrscht Trubel, gelingt mal was, sieht es genauso aus.
Der Sieg von Leclerc, der als klare Nummer zwei in die Saison gestartet war, hat Diskussionen nach einer neuen Hackordnung befördert. Solche Debatten schätzt Teamchef Mattia Binotto zwar so sehr wie lauwarme Tiefkühlpizzen, aber sie sind nun erstmal da. „Nummer 1 ist bei uns immer das Team“, sagte Binotto in Monza so diplomatisch, wie es die Situation kaum noch zulässt.
Dass es ausgerechnet vor dem Heimrennen um die Nummer eins im so ruhmreichen roten Rennstall geht, ist kein Zufall. Auf diesem Hochgeschwindigkeitskurs gilt Ferrari dank des starken Motors als hoher Favorit – selbst Mercedes gegenüber.
Im vergangenen Jahr zauberte Kimi Räikkönen eine Runde mit einem durchschnittlichen Tempo von 263,58 Stundenkilometern hin, eine Rekordrunde. Am Auto soll ein Sieg im Ferrari-Land – es wäre der erste seit Fernando Alonsos Triumph 2010 – also nicht scheitern, weshalb die Fahrer umso mehr ins Blickfeld rücken.
Italiens Presse stichelt schon
Wer bringt in Monza also mehr PS auf die Straße? Charles Leclerc, 21-jährig und Herausforderer – oder doch Sebastian Vettel, 32, und vierfacher Weltmeister?
Vieles spricht derzeit für Leclerc, der mehr Pole Positions gesammelt hat als Vettel (3:1) und in den letzten sechs Qualifyings stets das bessere Resultat erzielte. Der Monegasse kommt mit dem Rennwagen SF 90 H einfach besser zurecht als Vettel.
„In fünf Jahren sehe ich mich immer noch in der Formel 1, in rot gekleidet und mit dem Titel eines Weltmeisters“, soll Charles Leclerc dieser Tage in Mailand laut italienischen Medienberichten gesagt haben. Er fühlt sich offenkundig heimisch bei den Roten.
Fünf Jahre, so lange hatte auch Vettel Zeit, sich und den vielen Ferrari-Fans den großen Wunsch vom ersten WM-Triumph seit 2007 zu erfüllen. Genau genommen läuft das fünfte Jahr erst, aber bei 99 Punkten Rückstand auf Lewis Hamilton im Mercedes spart Italiens Sportpresse nicht an Abgesängen auf den seit einem Jahr sieglosen Deutschen.
„Vettel muss Leclerc den Weg frei machen!“, schrieb „La Repubblica“ jüngst. Und der „Corriere dello Sport“ titelte: „Charles, der Große! Ferrari blickt endlich in die Zukunft“.
In der Gegenwart ist auch Leclerc weit von der Spitze weg, 111 Punkte liegt er hinter Hamilton. Aber weil die Saison so mies verläuft, geht es im Hause Ferrari längst um die Perspektive. Darum, welcher Fahrer in der nächsten Saison den Status der Nummer eins zugesprochen bekommt.
„Für das Team ist es wichtig, dass wir zusammenarbeiten und nicht gegeneinander“, sagte Vettel, der den zunehmenden Druck im eigenen Hause spüren dürfte. Leclerc, mit 21 Jahren und 320 Tagen Ferraris jüngster Grand-Prix-Sieger überhaupt, wird von vielen Seiten hoch geschätzt, zurecht.
In seinem ersten Jahr bei Ferrari hat Leclerc schon früh seine außergewöhnlichen Fähigkeiten bewiesen. Etwa in Bahrain, wo er lange Zeit in seiner ganz eigenen Liga fuhr, bis ein Zylinder an seinem Auto nicht mehr funktionierte. Dritter wurde er in diesem Rennen, das die Fachwelt ins Schwärmen versetzte.
Lob vom Weltmeister
In Spa blieb er wiederum auch cool, als Lewis Hamilton hinter ihm herjagte, der ebenfalls zum Leclerc-Fanklub zählt. „Es ist nicht einfach für einen Fahrer, in ein Top-Team aufzusteigen, geschweige denn bei Ferrari, gegen einen viermaligen Weltmeister mit viel mehr Erfahrung. Ihn vom ersten Rennen an immer wieder zu übertreffen, ob im Rennen oder im Qualifying, ist nicht leicht. Ich denke, das spricht für sich selbst“, urteilte Hamilton über Leclerc.
Es ist aber nicht allein sein Talent, das Leclerc zu einem außergewöhnlichen Fahrer macht. Es sind auch die vielen tragischen Momente, die Leclerc in jungen Jahren schon verkraften musste.
2015 starb sein Patenonkel Jules Bianchi, ebenfalls Formel-1-Fahrer, an den Folgen einer Kollision mit einem Kran beim Rennen 2014 in Suzuka. 2017 musste Leclerc seinen Vater, der ihn früh gefördert hatte, überraschend verabschieden.
Und erst am vergangenen Samstag, kurz vor dem Rennen in Spa, starb sein Freund, der Formel-2-Fahrer Anthoine Hubert, in der Eau Rouge. Er verunglückte in jener berüchtigten Kurve, durch die kurz darauf Charles Leclerc donnerte.
Nur, dass Leclerc nicht dem Tod, sondern dem Sieg entgegenfuhr, den er anschließend Hubert widmete. „Wenn du erstmal im Wagen sitzt, richtest du dich in deiner Zone ein. Du versuchst daran zu denken, was du tun musst, und du musst so hart rennfahren wie du kannst, um dich so gut wie möglich zu platzieren“, sagt Leclerc in Monza zum Spiel mit dem Tod, den er schon so oft und nah kennenlernte.
Über den Tod seines Vaters sagte Leclerc mal, diese Erfahrung habe ihn reifen lassen, Druck genommen und gezeigt, dass es noch andere Dinge als Rennfahren gebe.
So reif führt er nun auch die Diskussion um seine künftige Rolle bei Ferrari. „Wir haben den richtigen Kompromiss gefunden zwischen Wettkampf und Zusammenarbeit“, erklärt Leclerc in Monza all jenen, die bereits eine teaminterne Schlammschlacht wittern. Und vielleicht kommt es dazu wirklich nicht. Immerhin wirkt Charles Leclerc gerade wie ein cavallino rampante, das seinen besten Tagen entgegen galoppiert.
David Joram