Bismarck-Biographie: Zur Hebamme geschrumpft
Christoph Nonn beschreibt in seiner Biographie die Widersprüche im politischen Wirken Otto von Bismarcks. Eine Rezension
Leben und Werk Otto von Bismarcks sind in Klischees ersoffen. Aus seinen Reden, Briefen, Anekdoten und Bonmots lassen sich Bismarckbilder zimmern, wie es einem gefällt. Das 20. Jahrhundert lässt sich durch die verschiedenen Bismarck-Biografien deuten. Kein Stein, den er betrat, wurde nicht dreimal umgedreht. Da war der „Reichsgründer“: nationalistisch vor 1914 und antirepublikanisch nach 1918. Nach 1945 taugte Bismarck als Sinnbild eines besseren kaiserlichen Deutschlands, das 1945 nicht untergegangen sein sollte. Seit den 1970er Jahren hatte die Frage nach den Ursachen der deutschen Katastrophe von 1933 immer etwas mit Bismarck zu tun. Bismarck konnte man so allerhand Gutes und Schlechtes zutrauen. Er trug das Seine dazu bei, indem er sich selbst bereits als allwissender und vorausschauender Reichsgründer und Reichskanzler gehörig inszenierte. Er sah sich selbst als integralen Gesamtmythos, der in seiner Person Gegensätzliches verband: Altes und Neues, Preußisches und Deutsches, Östliches und Westliches, Tradition und Moderne etc. Eine Kostprobe: „Es gibt Zeiten, wo man liberal regieren muss, und Zeiten, wo man diktatorisch regieren muss, es wechselt alles, hier gibt es keine Ewigkeit.“
"Heros und Heulhuber"
Mindestens zwanzig Bismarck-Biografien, die zurzeit auf dem Markt sind, führen historische Handlungsketten – egal, ob positiv oder negativ – auf Bismarck zurück. Doch war er nicht ein Ergebnis des Reiches, das er gründen half? Genau da setzt der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn, bekannt durch seine Arbeiten zum Kaiserreich und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, einen anderen Akzent. Er will nicht eine kritische Bismarck-Biografie schreiben, indem er ein Klischee durch sein Gegenteil setzt. Vielmehr lässt er Bismarck in seiner elegant geschriebenen und mit britischem Humor gewürzten Biografie schrumpfen und zeigt die mittel- und langfristigen Widersprüche in seiner Politik auf. Diese Biografie ist eine historistische Studie im besten Sinne. Sie kehrt weder den Helden noch den Schurken heraus. Auf Bismarck geht das Bonmot zurück: „Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“ Er hätte hinzufügen mögen: oder in identitätsbemühten Biografien und Memoiren. Bereits Theodor Fontane hielt den Fürsten für eine schwer ergründliche Mischung von „Übermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Pferdestall-Steuerverweigerer, von Heros und Heulhuber“. Nonn holt diese Widersprüche wieder hervor. Aufs Ganze gesehen hält er Bismarck für einen gescheiterten Außenpolitiker, was gemeinhin als das Paradefeld des Reichskanzlers galt, und einen leidlich erfolgreichen Innenpolitiker. Bismarck blieb Junker, ein Preuße in Europa, seltener schon ein Deutscher in Europa, nie ein Europäer in Europa.
Bismarck wird überschätzt – das ist Christoph Nonns Ausgangspunkt. Ihm gelingt diese Schrumpfung des Weltriesenstaatsmanns Bismarcks, indem er nach Handlungsspielräumen und Alternativen zu seiner Politik fragt. Er denkt kontrafaktisch, nennt die strukturellen Gegebenheiten, die Bismarck vorfindet, und kommt zu einer Reihe nüchterner Einschätzungen. Das gängige innenpolitische Klischee ordnet Bismarck den antidemokratischen Traditionen, ja einer Politik der Demokratieverweigerung schlechthin zu. Als Schlüsselmoment hin zu einem antidemokratischen und semi- absolutistischen Reich gilt der preußische Verfassungskonflikt zwischen dem liberalen Landtag und dem König seit 1861 mit Bismarck als beinhartem Verteidiger der Krone. Wäre Bismarck auf die liberale Landtagsmehrheit zugegangen, wäre das der Übergang zur parlamentarischen Monarchie nach englischem Vorbild gewesen. Nonn ist reichlich skeptisch gegenüber dieser englischen Alternative. Auf der Insel bedeutete Parlamentarismus gerade nicht Demokratie. Das allgemeine Wahlrecht war auch dort ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges. Parlamentarismus war nicht gleichbedeutend mit einer friedlichen Politik, wie die vielen Kriege der Briten in Indien und Afrika und der Umgang mit der irischen Frage bis 1914 zeigten. Zu stark war die Bindung der britischen Liberalen an das Bürgertum und seine Interessen.
Der dänische Krieg war eine Altlast aus den 1850er Jahren
Besonders mythenschwanger war der „Reichsgründer“ Bismarck, der drei Kriege führte, um das Reich zu einen. Auch hier hält Christoph Nonn dagegen. Im Deutschen Bund lief die Entwicklung von Politik, Wirtschaft und Kultur auf einen Nationalstaat zu, ob sich Bismarck den Liberalen nun anschloss oder nicht. Das war europäische Normalität, nicht Ausnahme, Sonderweg und Abfall vom rechten Weg. Hinter der Gründung des Deutschen Reiches stand keine zielbewusste Strategie Bismarcks. Der dänische Krieg war im Prinzip eine Altlast aus den 1850er Jahren. Auch den deutsch-französischen Krieg 1870/71 führte Bismarck nicht mit der List der Emser Depesche herbei. Vielmehr lag die Ursache für den Krieg im Krisenmanagement Napoleons III., der unter innenpolitischem Druck überreagierte. Bismarck ist bei Nonn vielmehr eine Art Hebamme für das, was sowieso kam. Daher unterstellt die Rede von den drei Reichseinigungskriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich Bismarck zu viel Einfluss. Nur der Krieg mit Österreich im Sommer 1866 schien Bismarck unausweichlich. Hier sieht Nonn Bismarcks einziges wirkliches Verdienst, denn der frühe und sehr maßvolle Frieden mit Wien und den süddeutschen Staaten, den er seinem König abtrotzte, ersparte vielen Soldaten den Tod.
Umgekehrt zog sich der Krieg gegen Frankreich 1870/71 viel zu lange und mit viel zu vielen sinnlosen Opfern hin. Die Reichsgründung geschah im Übrigen nicht gegen den Willen der anderen Mächte, sondern – mit Ausnahme Frankreichs – mit deren Zustimmung. Das Reich war keine Fast-Hegemonialmacht, kein Semi-Hegemon, wie Sebastian Haffner vermutete, ein weiteres oft wiederholtes Klischee. Aus dem Reichsgründer Bismarck wird bei Nonn die Politik der Reichsgründung, die auch mit dem innenpolitischen Koalitionswechsel des Fürsten 1879 von den Liberalen zu den Konservativen noch nicht abgeschlossen war. Lenkt man den Blick auf diesen größeren Zeitraum, dann tritt das innenpolitische Scheitern Bismarcks noch deutlicher hervor. Denn den Kulturkampf gegen die katholische Zentrumspartei verlor Bismarck genauso wie den Kampf gegen die Sozialdemokratie mit den Sozialistengesetzen, von der fatalen Germanisierungspolitik im Osten ganz zu schweigen.
Bismarcks innenpolitisches Kalkül hatte außenpolitische Folgen. Im Kampf gegen die bürgerlichen Liberalen, die er zuerst durch das allgemeine Wahlrecht schwächte, machte er, der persönlich dem Kolonialismus fern stand, dennoch 1884/85 Kolonialpolitik, um die liberalen Englandsympathien zu durchkreuzen. Das Ergebnis, die Flottenpolitik, belastete die Beziehungen zu London dauerhaft. Den Koalitionswechsel zu den agrarischen Konservativen 1879 und die Spaltung der Liberalen erreichte er durch Schutzzölle für die Landwirtschaft – auch gegen russisches Getreide. Die kamen ihn außenpolitisch teuer zu stehen, weil sie die deutsch-russischen Beziehungen auf Jahrzehnte hinaus belasteten. Aus seinem außenpolitischen „Dream-Team“, dem Drei-Kaiser-Bündnis aus Deutschland, Österreich und Russland, wurde daher auch aus innenpolitischen Gründen nichts.
Zu den hartnäckigsten Klischees gehört der Friedenspolitiker Bismarck, der genial als „ehrlicher Makler“ auftrat und eine Gleichgewichts- und Ausgleichspolitik verfolgte. Auch davon bleibt bei Nonn wenig übrig. Seinen Kardinalfehler hat Bismarck vielleicht selbst eingesehen: die Annexion Elsass-Lothringens 1871, die Frankreich auf Dauer entfremdete und sein Spiel mit den fünf Bällen wie das eines Getriebenen aussehen lässt. Hier lagen die Grenzen von Bismarcks Begriff der Politik, der sich selbst so gerne im Mittelpunkt sah: „Die Politik ist keine exakte Wissenschaft; mit der Position, die man vor sich hat, wechselt auch die Benutzungsart der Position.“ Der Politik-Junkie Bismarck überschätzte sich selbst und seine Möglichkeiten, Vergangenes ungeschehen zu machen. Die Geister, die er mit der Annexion von Elsass-Lothringen gerufen hatte, ließen ihn nicht mehr los. Aber auch dafür hatte Bismarck – wie immer – ein Bonmot: „Es gibt keine Handlung, für die niemand verantwortlich wäre.“
– Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert. C. H. Beck, München 2015. 400 Seiten, 24,95 Euro.
Siegfried Weichlein
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