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Buchcover zu Brendan Simms "Kampf um Vorherrschaft".
© promo / Verlag

Brendan Simms kritischer Band „Kampf um Vorherrschaft“: Europa und das Land in der Mitte

Deutschland als Gravitationszentrum Europas? In "Kampf um Vorherrschaft" zeichnet der Historiker Brendan Simms die Geschichte Europas kritisch nach - und entwirft das Bild eines "deutschen Mitteleuropas" neu.

Wenn es eine heilige Kuh der deutschen Politik gibt, dann gewiss die EU, oder besser: Europa. Wer Kritik daran äußert, wie die jüngst wählergestärkte AfD, wird schnell in die rechte Ecke gestellt. Da könnte auch der immer noch jugendliche Cambridge-Historiker Brendan Simms landen, verböte es nicht der Respekt vor der Forschungsleistung des gebürtigen Iren, ihn mit anti-europäischen Schmuddelkindern in einem Atemzug zu nennen.

Simms ist kein Anti-Europäer, doch nimmt er kein Blatt vor den Mund. Sein 900-Seiten-Buch „Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute" entpuppt sich als ein europakritisches Werk, das munter zwischen der Weber’schen Werturteilsfreiheit des Wissenschaftlers und der von ihm gehassten Meinungslastigkeit professoraler Bekenntnisse oszilliert. Ein abgewandeltes Weber-Zitat stellte Simms denn auch ans Ende seiner Buchvorstellung kürzlich in Berlin, den berühmten Satz aus der Freiburger Antrittsvorlesung von 1895: „Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte“. Nur dass Simms „Deutschland“ durch „Europa“ ersetzte.

Ein erhellender akademischer Scherz. Denn der 1967 geborene Simms folgt einem klaren Impetus. Er erinnert das mehr oder minder vereinte Europa an sein machtpolitisches Eunuchentum und zieht Schlussfolgerungen, bis hin zur aktuellen Situation um Putin, die Ukraine und die ungeklärte Nach-Nachkriegsordnung in Osteuropa. Sein Buch ist keineswegs eine Geschichte Europas von oben herab, sondern eine spezifisch deutsche Geschichte Europas – will heißen, eine Geschichte aus der Perspektive dieses in der Mitte liegenden Landes mit unklaren, unsicheren, missachteten Grenzen. Und doch war und ist dieses Deutschland immer das Gravitationszentrum Europas, mit furchtbaren Folgen im 20. Jahrhundert. Und ausgerechnet heute, da es sich im vereinten Europa quasi auflöst, ist es mächtiger und dem Bilde eines „deutschen Mitteleuropa“ näher denn je. Was die Nachbarn immer wieder mit Entsetzen registrieren.

Simms will die Deutschen nicht an den Pranger stellen

Simms ist weit davon entfernt, die Deutschen an den Pranger zu stellen. Er schreibt nicht über historische Finsterlinge, sondern über Strukturen, die über die Jahrhunderte hinweg wirkmächtig bleiben. Und er nimmt etwas in den Blick, von dem die Deutschen nicht mehr die geringste Ahnung haben: das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, das bis zu Napoleons Schwerthieb von 1806 Bestand hatte. Für Simms war es alles andere als das „Monstrum“, das die erwachende Staatsrechtswissenschaft darin sah, sondern ein Instrument zur Einhegung von Konflikten. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 war es geprägt vom Gewaltmonopol nach innen und vom Interventionsverbot nach außen. Der Preis für den Frieden: die Vorherrschaft fremder Mächte über Deutschland.

Dann kam Bismarck. An dessen Politik zeigt Simms die Unmöglichkeit des Nationalstaates und greift en passant Henry Kissingers Wort auf, das Bismarckreich von 1871 sei „zu groß für Europa und zu klein für die Welt“ gewesen. Schade nur, dass Simms anders als der vermeintlich imperialistische junge Max Weber keinen Blick für die soziale Dimension des Deutschen Reichs hat, auch nicht für die sich daraus ergebenden Implikationen für die politische Reife des Staates. Nein, er ist durch und durch Außenpolitiker. Das erdrückende Übergewicht, das er der Außenpolitik im Hinblick auf historische Folgewirkungen zumisst, macht denn auch die Schwäche des ansonsten mit Vergnügen zu lesenden Buches aus. Simms drechselt keine trockene Gelehrtenprosa, sondern vermag große Zusammenhänge in wenigen Sätzen zu erläutern. Man lese nur die knappe Seite über die Ursachen des Zusammenbruchs eben jenes Heiligen Römischen Reiches, über Napoleon und die in seinem Windschatten expandierenden deutschen Mittelstaaten, um aufs Schönste daran erinnert zu werden, dass Vergangenheit nichts Fernes sein muss.

Was Simms schlussfolgert ist nie ganz falsch - aber auch nicht ganz richtig

Das ist nach 240 Seiten zu lesen: Simms nimmt einen langen Anlauf zur Geschichte des modernen Nationalstaats seit Napoleon und dem Wiener Kongress. Ein Lieblingswort lautet „Sicherheitsinteressen“, da gerät Simms regelrecht ins Schwärmen. Aber kann man von einem „meteorhaften Aufstieg“ sprechen, nicht nur hinsichtlich des zaristischen Russland? Wie wär’s mit „kometenhaft“? Der Aufstieg mündete 1917 jedenfalls in einen bodenlosen Absturz, der allerdings kaum allein mit dem „allgemeinen Eindruck“ erklärt werden kann, „dass die herrschende Dynastie insgeheim deutschfreundlich eingestellt sei“. So reduziert sich die überideologisierte Politik der ersten Hälfte des Jahrhunderts auf die machttechnische Frage, „wie Deutschland stark genug erhalten werden konnte, um Aggressoren abzuschrecken, ohne dass es erneut mächtig genug wurde, um noch einmal das kontinentale Gleichgewicht umzustürzen“.

Es ist ja nie ganz falsch, was Simms schlussfolgert – etwa, dass die deutsche Frage den Kern des Kalten Krieges ausmachte –, aber auch nicht ganz richtig. Vermutlich schreibt er zu stark unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung und deren Auswirkung auf den europäischen Einigungsprozess, um andere Motive gelten zu lassen. Maggie Thatcher wollte die deutsche Einheit bekanntlich nicht, François Mitterrand ließ sie sich gegen die Einführung des Euro abhandeln.

In der deutschen Ausgabe seines im Vorjahr erschienenen Buchs spricht Simms sein Erkenntnisinteresse unumwunden aus, befeuert durch die Putin’sche Bedrohung: die fixe Idee, Europa könne nur durch einen großen Schock zusammenwachsen. „Was wir brauchen, ist ein kurzes kollektives Feuer, in dem angesichts gewaltiger ökonomischer und außenpolitischer Gefahren neue Institutionen und letztlich neue Identitäten gebrannt werden.“ Als Modell schlägt Simms ausgerechnet die 1707 geschlossene, unlängst eben noch gerettete Union zwischen England und Schottland vor, die weder einen einheitlichen Nationalstaat noch eine föderale Ordnung nach deutschen Muster darstelle, sondern – eben etwas Drittes.

Da wünscht man sich am Ende doch die gedankliche Schärfe eines Max Weber, der 1895 in einer Weise recht hatte und recht behielt, wie er es 1914 kaum glauben mochte.

Brendan Simms: Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute. Aus dem Engl. von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 896 S., 34,99 €.

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