200 Jahre Bismarck: Deutschlands Einheit ohne Pickelhaube
Denjenigen Bismarck, der Frieden durch Bündnispflege sicherte, der die Sozialversicherungen schuf, dürfen die Deutschen auch heute getrost auf die Sockel heben. Ein Kommentar zum 200. Geburtstag
Schont die Sockel, wenn ihr die Denkmäler stürzt, sie könnten noch gebraucht werden, warnt der Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec vor revolutionärem Übermut. Keinem anderen ungekrönten Politiker haben die Deutschen mehr Denkmäler errichtet als Otto von Bismarck, der heute vor 200 Jahren geboren wurde und 1871 das Deutsche Reich einte. Dieser Gründungsakt nach Jahrhunderten der Kleinstaaterei machte auch ihn für seine Landsleute schon zu Lebzeiten zu einem Denkmal. Bis heute verteilen sich die Bismarck-Türme und -Statuen zu Dutzenden über das zwischenzeitlich erneut geteilte und abermals wiedervereinte Land. Was sagen sie uns?
Wenig. Denn sie zeigen nicht mal den halben Staatsmann. Gedanklich haben die Deutschen diesen Bismarck der Denkmäler längst vom Sockel gestoßen. Die Mittel, mit denen er die Einheit erreichte, die Symbolik, mit der er sie vollzog, und die Geisteshaltung, in der die Nation sie feierte, erregen heute Anstoß. Das „Reich“ – noch so ein überholt anmutendes Wort – wurde „mit Blut und Eisen“ in den Einigungskriegen gegen die Nachbarn Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich erfochten. Die Proklamation des vormaligen preußischen Königs zum Deutschen Kaiser Wilhelm I. inszenierte Bismarck in Versailles: eine Demütigung, die die Franzosen ähnlich schmerzte und zu „Erbfeinden“ werden ließ wie die Eingliederung von Elsass-Lothringen ins Reich. Der Triumphalismus, der die Deutschen erfasste, spiegelt sich in den Denkmälern: Bismarck, aufs Schwert gestützt, hoch zu Ross, oft mit Pickelhaube, immer in Uniform und Stiefeln.
Er war nicht der eindimensionale Militärpolitiker
Dieser Bismarck und die deutsche Einheit, für die er steht, sind die Antithese zu 1989: einer Einheit, die in friedlichen Revolutionen gelang und im Einklang mit den Nachbarn. Die im Osten waren vom selben Geist der Selbstbefreiung von der Diktatur erfasst, gingen teils voraus, teils marschierten sie parallel, teils folgten sie dichtauf. Im Westen waren die Deutschen in ein Bündnissystem eingebettet, das die Ängste der Nachbarn wie der Deutschen vor einem neuen Hegemonen in Europa begrenzte. Zudem haben die Europäer aus dem Jahrhundert der Weltkriege eine Lehre gezogen, die Bismarck noch missachtete – aber auch nicht kennen konnte: Schont den Gegner, wenn ihr ihn besiegt habt; ihr könntet ihn morgen als Verbündeten benötigen.
Da bieten sich Anknüpfungspunkte an Bismarck. Er war ja nicht der eindimensionale Militärpolitiker der Denkmäler, sondern ein Mensch, der wie andere auch Widersprüche und Gegensätze in sich vereinte, innen- wie außenpolitisch. Und der mit seinen Erfahrungen reifte. Er bekämpfte Sozialisten, Katholiken und Polen als Feinde des Reichs, doch ihm verdanken die Deutschen die erste Sozialversicherung. Er war kein Pazifist, arbeitete aber an einem Bündnissystem, gerade auch mit Russland, das neuen Krieg in Europa verhindern sollte. Deshalb – und nicht wegen zeichnerischer Brillanz – wurde die Karikatur „Der Lotse geht von Bord“ so berühmt. Als der junge, unerfahrene Kaiser Wilhelm II. Bismarck 1890 entließ, ahnten viele in Europa instinktiv, dass Krieg wahrscheinlicher wurde.
Diesen Bismarck, der Frieden durch Bündnispflege sichert, der die Sozialversicherungen schuf, dürfen die Deutschen auch heute getrost auf die Sockel heben. Wäre doch schade, wenn sie nach dem gedanklichen Denkmalsturz sinnentleert in der Landschaft herumstehen.
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