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Angehörige der entführten Schülerinnen protestieren in der nordöstlichen Stadt Maiduguri gegen die Untätigkeit der nigerianischen Regierung.
© dpa

Boko Haram: Nigeria im Würgegriff afrikanischer Taliban

Die islamistische Terrororganisation Boko Haram hat in Nigeria 300 Schülerinnen entführt. Was sagt die Tat über den Zustand des westafrikanischen Staates aus?

Nie zuvor in der Geschichte des Weltwirtschaftsforums dürfte ein Regionalgipfel der Schweizer Organisation unter derart strikten Sicherheitsvorkehrungen stattgefunden haben wie das Treffen in der nigerianischen Hauptstadt Abuja in der vergangenen Woche. Statt über den westafrikanischen Ölstaat und sein wirtschaftliches Potenzial sprachen die Delegierten auf der Konferenz fast nur noch über die jüngste Eskalation der politischen Gewalt und die Entführung von fast 300 Schulmädchen. Rund 2000 Menschen sind seit Jahresbeginn in Nigeria von Boko Haram ermordet worden.

Unbegreiflich ist für viele vor allem, dass Boko Haram seit Monaten brutal wütet, ohne dass die Regierung dem blutigen Treiben auch nur ansatzweise Einhalt geboten hätte. Am Dienstag lehnte Präsident Goodluck Jonathan Verhandlungen mit der Terrororganisation über die Freilassung der entführten Schülerinnen kategorisch ab. Am Vortag hatte Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau als Gegenleistung die Freilassung aller seiner im Gefängnis sitzenden Kämpfer gefordert. Die USA setzen inzwischen bemannte Flugzeuge zur Suche nach den Geiseln ein.

Die Steinzeit-Islamisten sind überraschend modern ausgestattet. Beobachter vermuten, dass Generäle des nigerianischen Militärs womöglich mit den Islamisten unter einer Decke stecken oder beim Kauf der teuren Militärausrüstung mitverdienen, ohne dass es dafür bislang Hinweise gäbe. Anders ist aber kaum zu erklären, wie Boko Haram sonst in den Besitz von modernen Panzerspähwagen kommt, wie man sie auf dem Video sah, auf dem die Bande die Verantwortung für die Entführung der Schülerinnen übernahm.

Wer genau hinter der Terrorbande Boko Haram steckt, wer sie finanziert und wie verzweigt sie ist, konnte bislang nie mit Sicherheit geklärt werden, weil das Terrornetz derart gut organisiert ist, dass den nigerianischen Nachrichtendiensten eine Infiltration bislang unmöglich war. Auch gibt es weder genauere Angaben über die Zahl der Sektenmitglieder noch über die Struktur.

Fest steht nur, dass die Mitglieder den westlichen Lebensstil grundsätzlich strikt ablehnen, darunter den Konsum von Alkohol, aber auch jede Form von Luxusleben. Stattdessen verlangen ihre Führer, die im Norden bereits geltenden islamischen Schariagesetze auf ganz Nigeria auszudehnen. Unklar ist, ob die Gruppe vom benachbarten Terrornetzwerk Al Qaida im islamischen Maghreb (Aqim), einem Regionalableger von Al Qaida, finanziell und logistisch unterstützt wird. Dass es enge Kontakte gibt, gilt unter Experten jedoch als sicher.

Was auf den ersten Blick wie ein Krieg der Religionen erscheint, ist in erster Linie ein Kampf um die immer knapperen Ressourcen im Land. Wirtschaftlich ist der Aufholbedarf Nigerias nach den vielen verschenkten Jahren seit der Unabhängigkeit 1960 riesengroß. Dazu gehört vor allem die verheerende Stromversorgung. Mehr als zwei Drittel der Elektrizität werden irgendwo in Kellern und Hinterhöfen mit privaten Generatoren produziert.

Obwohl das Land nach einer Neuberechnung seiner Wirtschaft gerade erst Südafrika als stärkste Wirtschaft des Kontinents überflügelt haben soll, ist es angeraten, hinter die Zahlen zu blicken: Auf der einen Seite ist Nigeria mit 2,5 Millionen Barrel am Tag der weltweit achtgrößte Ölproduzent und scheffelt jährlich Milliarden von Petrodollars. Auf der anderen Seite sind die Raffinerien in einem derart maroden Zustand, dass das Land auf Benzineinfuhren angewiesen ist. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 60 Prozent der Erdöleinnahmen in privaten Taschen versickern – rund 500 Milliarden Dollar seit der Unabhängigkeit. Bis heute hängt die frühere britische Kolonie allein am Öl. Rund 80 Prozent der gesamten Staatseinnahmen stammen aus dieser Branche und rund 90 Prozent der Deviseneinnahmen. „Das Öl wird bis heute ganz überwiegend von kleinen einflussreichen Eliten ausgebeutet, ohne dass die Erlöse daraus in Investitionen zum Aufbau industrieller Strukturen oder die marode Infrastruktur fließen“, heißt es in einem Bericht der Weltbank.

Erst kürzlich stellte der nigerianische Literaturnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist Wole Soyinka angesichts der fatalen Mischung aus Gewalt, Korruption und Intoleranz erneut fest, seine Heimat sei womöglich bereits ein „gescheiterter Staat“.

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