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Premiere "Wir sind auch nur ein Volk" am Hans Otto Theater Potsdam.
© Thomas M. Jauk

Theaterkritik: „Wir sind auch nur ein Volk“ am Hans Otto Theater

In dem Stück „Wir sind auch nur ein Volk“ nach den Drehbüchern von Jurek Becker bekommt ein westdeutscher Fernsehautor DDR-Nachhilfe bei einer Ost-Familie.

Potsdam - In Anspielung auf das Fernsehen beginnt die Premiere von „Wir sind auch nur ein Volk“ am Freitagabend im Hans Otto Theater mittels einer Leinwand. Der 1937 in Lódz in Polen geborene Jurek Becker hatte 1994 Drehbücher für eine Fernsehserie zur deutschen Einheit unter diesem Titel geschrieben. Bekannter wurde der Autor mit Romanen wie „Jakob der Lügner“ oder später „Amanda herzlos“ und für das Fernsehen mit der Serie „Liebling Kreuzberg“, in der Beckers engster Freund Manfred Krug – ebenso wie in der Fernsehfassung von „Wir sind auch nur ein Volk“ – die Hauptrolle spielte.

Auf der großen Leinwand in Potsdam sind Lampen mit plüschigen Schirmen und dazwischen Fernseher in einem Schaufenster zu sehen. Das Ehepaar Benno und Trude Grimm (Jon-Kaare Koppe und Kristin Muthwill) geht fünf Jahre nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland vor diesem Schaufenster auf und ab und denkt kontrovers über die Neuanschaffung eines Fernsehers nach. Aber anstatt dafür Geld auszugeben – der 55-jährige Benno ist arbeitslos – kommt der Familie, zu der noch der 78 Jahre alte Schwiegervater Karl Blauhorn (Joachim Berger) und der erwachsene Sohn Theo (David Hörning) gehören, unvermutet das Fernsehen ins Haus. 

Premiere "Wir sind auch nur ein Volk" am Hans Otto Theater Potsdam.
Premiere "Wir sind auch nur ein Volk" am Hans Otto Theater Potsdam.
© Thomas M. Jauk/Hans Otto Theater

Westdeutscher soll Serie über den Osten schreiben

Dies passiert in Gestalt des Schriftstellers Anton Steinheim (René Schwittay), der zögerlich den Auftrag angenommen hat, eine Fernsehserie über eine Familie aus dem Osten zu schreiben. Steinheim ist aus dem Westen und hat es noch nie mit den Leuten, über die er sich nun etwas zum Thema Wiedervereinigung ausdenken soll, zu tun gehabt. Vorbilder und Geschichtenlieferanten sollen die Grimms werden.

Nachdem die Leinwand hochgezogen wird, beeindruckt auf den ersten Blick das drehbare Bühnenbild, das Susanne Maier-Staufen entworfen hat und das über den zweieinhalbstündigen Spielabend immer wieder für Überraschungen sorgen wird. Auf der Bühne befindet sich ein Wohnhaus, das etwas von Altbau und Fabrikgebäude hat und in originellen Verschachtelungen gebaut ist. Zudem besitzt seine Bauweise Symbolcharakter, denn die Grimms und das Ehepaar Steinheim (die Ehefrau Lucie Steinheim spielt Nadine Nollau) leben gewissermaßen unter einem Dach. 

DDR-Accessoires spielen keine Hauptrolle - zum Glück

Ganz unten befindet sich die Küche der Grimms, über eine Treppe sind das Wohnzimmer und der angedeutete Wohnraum des Schwiegervaters zu erreichen. Glücklicherweise wurde darauf verzichtet, DDR-Accessoires gewissermaßen Hauptrollen spielen zu lassen. Dennoch ist das orangefarbene Schnurtelefon vor der großgemusterten DDR-Tapete witzig eingebaut und auch einen Anklang an den Anker-Steinbaukasten gibt es, den Jurek Becker tatsächlich in der DDR für einen engen Freund besorgte, der in den sechziger Jahren in den Westen geflohen war. Hier ist das Spielzeug Benno Grimms Hobby.

Als „der Insektenforscher aus dem Westen, der uns Ostkäfer anschauen will“ – so Benno Grimm über Steinheim – vor dem Hintergrund eines zugesagten guten Honorars Einlass bei den Grimms gefunden hat, werden Themen verhandelt wie: Was ist ein Dispatcher? Grimms einstiger Beruf, bei dem er immer für Nichtfunktionierendes im Betrieb „den Kopp hinhalten“ musste. Wie ging es in einem FDGB-Ferienheim zu und mussten alle so Urlaub machen? Und – natürlich – wie war das mit der Stasi? Und war jemand Opfer oder gar Täter? 

Anton (René Schwittay, M.) bekommt von Benno und Trude (Jon-Kaare Koppe und Kristin Muthwill) Nachhilfe in Sachen DDR.
Anton (René Schwittay, M.) bekommt von Benno und Trude (Jon-Kaare Koppe und Kristin Muthwill) Nachhilfe in Sachen DDR.
© Thomas M. Jauk

Unangemessen milde

Die Stasifrage und die einstige NSDAP- und spätere SED-Mitgliedschaft des alten Blauhorn werden unangemessen milde behandelt. Das Stück hat mit seinen oftmals wortwitzigen Dialogen komödiantischen Charakter, auch etwas von Boulevard made in GDR, was gut gemacht ist und vom Premierenpublikum mit vielen Lachern und Szenenapplaus honoriert wird. Dennoch wird mit einem immer wiederkehrenden Ach-war-doch-alles- nicht-so-schlimm-Gestus Problematisches auf unangenehm versöhnlerische Weise heruntergespielt. 

Das mag bereits in der Vorlage des Autors Jurek Becker begründet liegen, dessen einstige Sonderstellung sich möglicherweise hier niederschlägt. Becker hatte die DDR 1977 verlassen und sein Zweijahresvisum, das ihm das Reisen zwischen Ost und West gestattete, schließlich auf ein Zehnjahresvisum, bis zum Dezember 1989, verlängert bekommen, was einmalig für ehemalige DDR-Künstler war. So hatte der 1997 verstorbene Autor zwar noch immer DDR-Fühlung, war aber längst nicht mehr wirklich betroffen.

Große Spiellust

Allerdings holt das Ensemble unter der Regie von Maik Priebe mit großer Spiellust, die angenehm unaufgeregte Seiten hat, alles heraus, was diese Vorlage anzubieten hat. Kristin Muthwill zum Beispiel spielt alle Facetten der Ende 40-jährigen Lehrerin Trude Grimm aus: Sie kann angepasst und auch ganz gerade sein. Sie kann den angestauten Groll auf den einst republikflüchtigen Bruder (Andreas Spaniol) während des Familientreffens – das sind glaubwürdige und keine versöhnlerischen Szenen – langsam hochkochen und schließlich wunderbar in einem wohlgesetzten Wutanfall ausbrechen lassen. Sehnsüchtig-lustvoll findet sie sich mit ihrem Benno im Ehebett wieder, das auf dieser tollen Bühne wiederum überraschend aus „der Schachtel“ kommt.

>>Für die Vorstellungen am 2. Februar um 15 Uhr und am 16. Februar um 17 Uhr gibt es noch Tickets.

Carolin Lorenz

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