Tanz in der fabrik Potsdam: Zeitgenössischer Tanz mal ganz verständlich
„Explore Dance“: Die fabrik baut gemeinsam mit Potsdamer Schulen ein deutschlandweites Netzwerk auf, um jungem Publikum Tanz zu erschließen. Zum Auftakt kommt „Für mich“ aus Hamburg.
Potsdam - Zeitgenössischer Tanz ist verkopft. Unzugänglich. Ein Nischenprodukt. Vor allem ist zeitgenössischer Tanz nicht zu verstehen, falls man nicht gerade einen Doktor in Postirgendwas hat, oder zumindest doch bitte ein paar Semester Theaterwissenschaft studiert.
Tanzen muss man sehen lernen
Das sind so ungefähr die Vorurteile, mit denen sich der zeitgenössische Tanz herumplagt, und teilweise nicht ganz zu unrecht. Tanz muss man sehen lernen, so wie man Lesen lernen muss. Und man muss sich darauf einlassen, vielleicht auch die Geduld dafür lernen, wozu einen, anders als beim Lesen, in der Schule niemand zwingt.
Entwicklung des Tanzes beobachten
Das will „Explore Dance“ ändern. Zeitgenössischer Tanz soll zwar auch künftig gottlob nirgendwo Zwang werden, aber in Potsdam ist gerade ein Projekt am Entstehen, das Schulen und Tanz viel enger miteinander verknüpfen will als bisher. Enger und auch anders: Kinder sollen hier am Ende aber nicht selbst auf der Bühne stehen, wie das in Projekten wie etwa denen von Marita Erxleben bereits regelmäßig in Potsdam geschieht. Sondern sollen sich selbst, ihre Themen, auf der Bühne wiederfinden – und auf dem Weg dahin beobachten, wie Tanz, diese universellste und bizarrerweise zuweilen zugleich auch unzugänglichste aller Künste, entsteht.
Etwas Bleibendes soll entstehen
„Explore Dance“ wurde von der fabrik Potsdam gemeinsam mit Fokus Tanz München und dem am Produktionshaus Kampnagel angesiedelten K3 Tanzplan Hamburg ins Leben gerufen. Der Untertitel umreißt die angedachte Dimension des Projekts: Netzwerk Tanz für junges Publikum. Etwas Bleibendes soll hier entstehen, das im besten Fall die Rezeption und die Beschaffenheit von Tanz für junges Publikum auf Dauer verändert. 540.000 Euro gab es dafür vom Förderfond „Tanzpakt Stadt-Land-Bund“. Auch andere Förderer, darunter das Land Brandenburg und die Stadt Potsdam mit 60 000 Euro pro Jahr, konnten mit ins Boot geholt werden, sodass dem Projekt insgesamt 1,3 Millionen Euro zur Verfügung stehen.
National und international sichtbar
Für die fabrik bedeutet das zusätzlich ein Budget von 140.000 Euro jährlich. Etwas weniger, als das Vorgängerprojekt „Tanzplan Potsdam“ bekam, in dessen Rahmen 2006 bis 2010 internationale Choreografen in Form von Residenzen an die fabrik geholt wurden – aber „Explore Dance“ ist eine potenziell ähnlich prestigereiche Sache. Die „Artist in Residence“-Formate halfen wesentlich dabei, die fabrik Potsdam national und international sichtbar werden zu lassen. Vergleichbares erhofft man sich an der fabrik auch vom neuen Format – mit dem zusätzlichen lokalen Bonus, dass in „Explore Dance“ vier Potsdamer Schulen eingebunden sein werden: die Gerhart Hauptmann Grundschule, die Freie Schule, die Grundschule am Pappelhain und die Neue Grundschule. Internationale Choreografen – Lea Martini, Dennis Deter, Lea Moro, Clément Layes und das Duo Deufert&Plischke – werden gemeinsam mit den Kindern an neuen Stücken arbeiten.
Konkret sollen bei „Explore Dance“ an den beteiligten drei Orten im Verlauf von drei Jahren sechs Produktionen entstehen: je zwei in Potsdam, München und Hamburg. Einmal im Jahr wird dann verglichen und gemeinsam gefeiert, in Form eines Mini-Festivals sollen alle entstandenen Produktionen an einem Ort zu sehen sein. Den Auftakt macht Hamburg im kommenden Frühjahr.
Drittes Treffen wird herbeigesehnt
Die Potsdamer Schule, an der das Tanzen schon begonnen hat, ist die Gerhard Hauptmann Schule. Die Choreografen Lea Martini und Dennis Deter („Nussknacker“, 2017) haben sich vor den Sommerferien als „Beobachter“ an der Schule umgesehen, mit den Kindern einer zweiten Klasse Spiele zum Thema „Urknall“ gemacht. „Eine Geschichte der Welt“ ist der Arbeitstitel für das Projekt, das Ende März 2019 Premiere feiern soll: keine Angst vor großen Themen. Zweimal haben sich die Kinder mit den Künstlern getroffen, das dritte Treffen ist heiß ersehnt, sagt Klassenlehrerin Svenja Cowley.
Freien Umgang lernen
„Explore Dance“ funktioniert nur dank unerschrockener Lehrer und Lehrerinnen wie ihr. Denn Teil der Idee ist es, das Tanzprojekt in den Unterricht zu integrieren, in Cowleys Fall vor allem das Fach Kunst. „Kinder sollen nicht nur Lesen und Schreiben in der Schule lernen, sondern auch soziale Kompetenzen“, findet Svenja Cowley – und Gedanken und Fragen entwickeln, die sonst in der Schule keinen Platz haben. Genau das passiert in „Explore Dance“, sagt sie, und nebenbei lernen die Kinder in einem Alter, das noch keine Scham kennt, den freien Umgang miteinander – und dass Tanz nicht nur Ballett ist.
Keine Scheu
Svenja Cowley hofft, dass die Kinder diese in drei Jahren gelernten Lektionen nicht vergessen, wenn sie größer werden. Und auch Sven Till, der Leiter der fabrik, hofft das. Denn in „Explore Dance“ mag es darum gehen, den Kindern ein Weltbild zu vermitteln, das mehr als eine Kunstform kennt, das Fragen zulässt, und auch aushält, wenn es keine Antworten gibt. Worum es aber auch geht: Menschen heranzuziehen, die später keine Scheu vor der Art von Kunst haben, wie Sven Till und die fabrik sie zeigen. Erzählweisen, die nicht linear sind, Geschichten, die keine Pointen haben.
Kräftezehrende Projekte
Dennoch will Sven Till das Projekt nicht als Erziehungsmaßnahme für „das Publikum von morgen“ missverstanden wissen. „Es ist für das Publikum von heute“, sagt er. Immer wieder hat die fabrik in den letzten Jahren Kinder- und Jugendformate nebenbei gestemmt, ohne extra Mittel. Ein Irrsinn, der über alle Kräfte ging, und auch, wie die 2005 begonnenen Kinder- und Jugendtanztage oder das Festival „Zig Zag“ nicht lange durchzuhalten waren. Jetzt wurden zwei Stellen, besetzt mit Jeanne Chapy und Johanna Simon, eingerichtet, die sich vorrangig mit „Explore Dance“ auseinandersetzen werden.
Was dabei am Ende auf der Bühne herauskommen kann, Mitmachtheater vom Feinsinnigsten nämlich, war am Freitag in der fabrik zu erleben. „Für mich“ heißt das Stück, das die Choreografin Antje Pfundtner mit Schülern im Alter von 10 bis 15 Jahren für den Hamburger „Explore Dance“-Partner Kampnagel entwickelt hat. In der Vorbereitung dazu hat Antje Pfundtner den Kindern die Frage gestellt: „Was wirst du nicht genug gefragt?“. Eine der Antworten gibt sie selbst: „Bist du glücklich?“
Pobacken schlackern
„Wer von uns die Zeit anhalten möchte, legt die Hand auf das Knie“, sagt Pfundtner zu Beginn, fast alle tun es. Dann sollen alle die Augen schließen und sich vorstellen, wann sie lieber nicht tanzen möchten. Der Raum, darunter viele Zweitklässler, scheint den Atem anzuhalten. Es wird später auch noch richtig getanzt, es wird gezappelt, Pobacken werden zum geräuschvollen Schlackern gebracht, feine Ballettbewegungen mit Rülpsgeräuschen untersetzt. Am stärksten aber ist „Für mich“, wenn diese Gänsehautmomente aufploppen, in denen sich vorm inneren Auge Welten auftun. Vibrierende, intime Echos auf das, was die drei Tänzer immer wieder in Form von spielerischen Kommandos heraufbeschwören und die Schüler mit Lachern oder Stille spiegeln. Es ist das zauberhafte Material jeden Theaters: „Jetzt“.
„Für mich“, am Samstag um 18 Uhr und am morgigen Sonntag um 16 Uhr in der fabrik