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Bettina Jahnke, Intendantin Hans-Otto-Theater Potsdam.
© Andreas Klaer

Debatte über DDR und Rechtsextremismus: HOT-Intendantin Bettina Jahnke über DDR, AfD und Wut

„Haltung“ lautet das Motto der ersten Potsdamer Spielzeit von Intendantin Bettina Jahnke am Hans Otto Theater. Ein Gespräch über die Erinnerungskultur der DDR, AfD-Erfolge im Westen – und die Wut im Osten.

Frau Jahnke, die Diskussion zwischen Eugen Ruge und Marianne Birthler am Hans Otto Theater in Potsdam offenbarte, wie unterschiedlich Erinnerung an die DDR ausfallen kann: Birthler sagt, der Holocaust kam bis in die 1970er Jahre im Unterricht nicht vor. Wie erinnern Sie selbst sich daran?

Ich selbst bin Jahrgang 1963, die Jüngste in der Runde, und habe so noch einmal einen anderen Erfahrungshorizont. Ich kann beiden recht geben. Ich erinnere auch den von Marianne Birthler zitierten Spruch „Wir sind die Guten“. Die Nazis waren auf der anderen Seite der Mauer, das war für uns ganz klar. Dazwischen lag der antifaschistische Schutzwall. Mit dieser Gewissheit, dieser Haltung bin ich aufgewachsen. Auf der anderen Seite kann ich Eugen Ruge recht geben, der sagte, dass es natürlich Literatur gab, die uns sehr geprägt hat. Pawel Kortschagin, der Held aus „Wie der Stahl gehärtet wurde“, war auch mein Held. Das Buch war Pflichtlektüre. Aber ich habe das damals nicht in den Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gestellt. Das waren persönliche Einzelschicksale, die uns bewegt haben, genauso wie „Nackt unter Wölfen“ und „Professor Mamlock“, was wir in der Schule behandelt haben. Eine wirkliche Debatte gab es aber damals nicht.

Antifaschismus der DDR war also ein Mythos, wie Marianne Birthler sagte?
Ja. Ich würde ihr da recht geben. Das Schlimme ist ja, dass es die Lektüren gab, die obligatorischen Besuche in den Konzentrationslagern, aber eine wirkliche Debatte dazu in der Schule nicht. Auch zu anderen Themen nicht. Es gab generell keine Debattenkultur. Dadurch gab es für die Menschen meiner Generation keine innere Auseinandersetzung mit der Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“. Weder in der Schule noch in der Öffentlichkeit. Das Thema Faschismus reihte sich als eine nicht stattfindende Auseinandersetzung in die Reihe anderer nicht stattfindender Auseinandersetzungen ein: wie Freiheit, Individualität, die Frage „Wer bin ich?“.

Und auch Literatur und Filme zum Thema halfen bei der Auseinandersetzung nicht?
Nein, weil man diese Themen nicht miteinander ausgehandelt hat, wie das heute etwa über die freie Presse geschieht. Als die Pegida-Bewegung aufkam, dachte ich selbst zum Beispiel: Das sind alles alte weiße Männer. Die Ausgegrenzten, Abgehängten. Ich habe einen Moment gebraucht, um zu verstehen: Das ist ja meine Generation, meine Schulkameraden. Menschen, mit denen ich eine gewisse Erfahrung gemeinsam habe. Das hat mich komplett aus der Bahn geworfen, weil ich begriffen habe: Ich bin Teil von denen, und die sind Teil von mir. Da habe ich mich gefragt: Warum bin ich da nicht auf der Straße? Wo sind sie abgebogen?

Haben Sie eine Antwort gefunden?
Nein, ich bin noch mitten drin in der Beantwortung. Hat es damit zu tun, wie ich mit dem Bruch 1989 umgegangen bin, habe ich vielleicht auch Glück gehabt? Habe ich das als Krise, als Nicht-Mitgenommen-Werden begriffen oder als Bereicherung? Da stimme ich auch Frau Birthler zu, die sagt, die Pegida-Demonstranten seien Menschen, die sich nicht mitgenommen fühlen, denen ein bestimmter Diskurs von oben verordnet wird. Die da oben gegen uns hier unten: Das ist eine Erfahrung, die uns Ostdeutsche schon geprägt hat, denke ich. Alles, was von „oben“ kommt, wie die „Lügenpresse“ etwa, hat per se nichts mit ihnen zu tun.

Wolfang Engler und Jana Hensel beschreiben in ihrem Buch „Wer wir sind“ Pegida als eine, nicht positiv bewertete, Emanzipationsbewegung der Ostdeutschen. Gegen das „Da oben“. 

Als Emanzipation würde ich das nicht beschreiben, das ist für mich immer noch etwas Positives, ein Begriff, der beinhaltet: Ich weiß, wo ich hinwill. Ich habe bei Pegida nicht das Gefühl, dass sie wissen, wo sie hinwollen, sondern wogegen sie sind. Aber dieses Sicht-Ermächtigen, sich einen Spiel- oder Gestaltungsraum-Erobern: Ja, in dem Sinne würde ich mit der Beschreibung mitgehen. Man merkt das auch an den Gelbwesten in Frankreich, die man ja im Sinne einer auf der Straße stattfindenden Meinungsäußerung durchaus mit Pegida kurzschließen könnte. In beiden Fällen sagen Menschen, ganz körperlich: Bis hierher und nicht weiter.

Eugen Ruge sagt: Bilder wie die aus Chemnitz hätte es auch in Niedersachsen geben können. Wie ostdeutsch ist der Rassismus, der sich da manifestiert?
Das frage ich mich auch. Und dennoch fallen in den Medien immer die Namen der ostdeutschen Städte. Ich schäme mich dafür, aber es ist so. Die Vehemenz dieser Vorfälle, das Enthemmte, das hat etwas damit zu tun, dass der Druck, der durch den Umbruch in der ehemaligen DDR entstand, hier in Ostdeutschland größer ist. Die Wurzellosigkeit, das Nicht-Dazugehören, wird hier extremer erfahren als im Westen. Ich glaube aber, dass sich dieser Druck dort auch noch entwickeln wird.

Engler und Hensel beharren: Es genügt nicht, auf die Diktaturerfahrung im Osten zu verweisen – man sollte sich eher die Verletzungen der Nachwendezeit ansehen.
Die Diktaturerfahrung hat schon etwas mit uns Ostdeutschen gemacht. Mit unserer Art und Weise zu denken, mit Obrigkeit umzugehen – überhaupt dieser Begriff „Obrigkeit“. Sich nicht zu einem Politikstil zugehörig zu fühlen, das würde ich nicht außer Acht lassen. Und aus diesem Sich-nicht-gemeint-Fühlen ist man 1989 ausgebrochen und dachte: Jetzt wird alles anders. Zehn Jahre später stellt man fest: Man ist wieder nicht gemeint. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken. Es handelt sich um doppelte, potenzierte Verletzungen, die sich in der Flüchtlingskrise geballt und nun enthemmt geäußert haben.

Auch im Westen hat die AfD viele Wähler. Wie war in Neuss, wo Sie zuvor Intendantin waren, der Umgang mit der Partei?
Ich würde sagen: „gesitteter“. In Neuss habe ich das so erlebt, dass es ein breiteres, weil gewachsenes, Grundverständnis von Demokratie gibt, welches die Bürger bei aller Kritik und Ablehnung sagen lässt: Es ist eben eine demokratisch gewählte Partei, auch wenn es einem nicht passt. Das eigene Grundverständnis ist so gefestigt, dass man dort sagt: Das müssen wir aushalten und mit demokratischen Mitteln bekämpfen. Hier im Osten habe ich das Gefühl, dass alles viel poröser ist und sich dadurch viel extremer äußert. Die Toleranzschwellen sind viel geringer. Die Spaltung erlebe ich hier viel größer.

Haltung ist das Motto Ihrer ersten Potsdamer Spielzeit. Wie halten Sie selbst es mit dem Umgang mit AfD und Pegida? Klare Kante zeigen oder es machen wie die Neusser?
Die Frage muss man sich jeden Tag, in jeder Begegnung immer wieder neu stellen, denke ich. Was ich interessant fand: Unsere Premiere von Sibylle Berg hat im Publikum sehr unterschiedliche Meinungen hervorgerufen. Da wurde dem Regisseur vorgeworfen, er würde sich mit dem Wutbürger im Stück gemein machen, und wir als Theater würden dem eine Bühne geben. Ich finde genau das an dieser Inszenierung richtig: dass man sich dem, was da passiert, nicht entziehen kann. Ich muss Haltung beziehen zu diesem Meinungskörper auf der Bühne. Wir sind die Guten, ihr seid die Bösen, das hatten wir ja schon mal. Ich finde das Aushalten und Ausdiskutieren von unterschiedlichen Meinungen viel schwieriger.

Damit sind wir bei der vielleicht wichtigsten Frage: Was bedeuten Diskussionen wie die von Ruge und Birthler für das Heute? Für Sie als Theaterleiterin im Osten?
Dass man Stücke wie Sibylle Bergs „Viel gut essen“ so aufführt wie wir das getan haben und das Publikum nicht entmündigt. Wir machen nach jeder Aufführung ein Nachgespräch. Ich sage immer: Wir müssen uns voneinander erzählen. Wie wichtig das ist, erlebe ich auch bei den Gesprächen zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Daher auch die Einladung an Gert Scobel, seine Gäste zu aktuellen Themen zu befragen. Uns war nicht bewusst, dass es so knallen würde, aber uns war klar, dass hier verschiedene Positionen aufeinandertreffen.

Verschiedene Haltungen aushalten, heißt das, dass demnächst Herr Gauland hier zu Gast sein wird – mit Sahra Wagenknecht?
Nein, für die Politik würde ich mein Haus nicht öffnen. Wir suchen immer den künstlerischen Zugriff auf die Realität. Sonst laufen wir Gefahr, vor einen parteipolitischen Karren gespannt zu werden.

Sie haben nach der Berliner „Erklärung der Vielen“ eine Brandenburger Erklärung initiiert. „Das soll mehr als ein Lippenbekenntnis sein“, sagten Sie. Sind aber Erklärungen nicht immer genau das: nur Worte?
Die "Erklärungen der Vielen" sind mehr als das, weil sie einen Raum vorgeben wollen, in dem man sich sicher oder unter Gleichgesinnten fühlen kann. Man weiß, dass an den beteiligten Kulturinstitutionen ein bestimmter Geist, eine bestimmte Haltung herrscht. Wir wollen der Öffentlichkeit zeigen: Hier ist für bestimmte Haltungen, eine bestimmte Art von Kunst kein Raum. Für mich sind diese Orte Magnetfelder, wo andere andocken können. Wenn wie etwa in Cottbus ein Theater angefeindet wird, dann wissen die Kollegen: Sie haben ein Bündnis hinter sich. Man ist nicht auf verlorenem Posten.

Bettina Jahnke, 1963 in Wismar geboren, war 2005 bis 2009 Oberspielleiterin in Cottbus, danach bis 2018 Intendantin in Neuss. Seit dieser Spielzeit leitet sie das Hans Otto Theater.

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