Vermisster Elias aus Potsdam: Polizeipsychologe: „Der große Unbekannte ist es fast nie“
Polizeipsychologe Adolf Gallwitz im PNN-Interview über die Polizeiarbeit im Fall des verschwundenen Elias, die Rolle der sozialen Netzwerke und die Chancen, dass der Junge bald gefunden wird.
Herr Gallwitz, der sechsjährige Elias ist nun schon seit sechs Tagen verschwunden. Wie beurteilen Sie den Fall?
Kinder dieser Altersgruppe sind extremst gefährdet, bei einem Verschwinden – wenn sie nicht schon von Anfang an zum Opfer geworden sind –, zum Opfer zu werden. Ein Verbrechen ist nicht auszuschließen, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, ein Unglück etwa, das Kind könnte verletzt oder auch schwer verletzt sein. Selbst wenn der Junge noch am Leben ist, was wir uns alle wünschen, ist ein Kind dieser Altersgruppe extremst gefährdet. Deswegen ist es wichtig, den Jungen so schnell wie möglich zu finden.
Können Sie Hinweise geben, was jetzt getan werden muss – von der Polizei, aber auch von der Stadtgesellschaft?
Die örtlich zuständige Polizei wird sicher alles tun, was getan werden kann. Bei dieser Altersgruppe muss man auch davon ausgehen, dass womöglich jemand in das Verschwinden verwickelt ist, der aus dem Umfeld des Jungen kommt. Dies abzuklären, ist extrem schwierig, weil es sich ja um Bekannte, Freunde und Nachbarn der Familie handelt. Von unserer Denke her ist es einfacher, den großen Unbekannten verantwortlich zu machen, der hinter der Ecke gelauert hat. Aber in der Realität ist das fast nie der Fall.
Stichwort Polizeiarbeit: Zwei maßgebliche Fragestellungen haben Experten in den vergangenen Tagen ausgemacht: Das familiäre Umfeld, also Wohnung und Auto, sind erst am Samstag, also am dritten Tag des Verschwindens, offiziell von der Polizei durchsucht worden. Ist das zu spät?
Das kann man so nicht sagen. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass die Polizei sehr sensibel vorgegangen ist. Denn Familien, die ihre Kinder vermissen, erleben es als sehr unangenehm und dramatisch, wenn der Eindruck entsteht, sie könnten etwas mit der Situation zu tun haben. Aber auch das weitere Umfeld der Familie, auch die entfernteren Nachbarn sind sehr wichtig, wenn es um die Ermittlungen beim Verschwinden von Kindern in dieser Altersgruppe geht.
Manche Kritiker sagen zudem, die Suche nach dem Jungen sei bislang nicht systematisch, nicht umfassend genug verlaufen. So seien Gullydeckel nicht geöffnet, Heizungssysteme unter dem Plattenbauviertel nicht durchsucht worden. Wird dies zu Recht kritisiert?
Das kann ich aus der Entfernung nicht sagen. Die Polizei wird sicher Prioritäten gesetzt und zuerst nach dem lebenden Jungen gesucht haben und nicht in Gullys oder an anderen Plätzen, wo man ein Kind versteckt haben könnte, das bereits tot ist. Man sollte sich vor übereilten Schlüssen hüten. Viele neigen schnell dazu, bei einer Suche, die nicht rasch zu einem Ergebnis führt, der Polizei den Vorwurf zu machen, sie habe nicht gründlich genug gesucht.
Was muss bei einer Suche nach einem Kind beachtet werden?
Das hängt sehr von der vermissten Person ab. Wichtig ist, so viel wie möglich über die Gewohnheiten und Verhaltensweisen des Verschwundenen herauszufinden.
Die Polizei hatte bislang täglich rund 150 Beamte bei der Suche im Einsatz. Wie lange kann und muss ein solcher Aufwand betrieben werden?
Die Polizei wird das tun, so lange es nötig ist. Aber das ist natürlich ein Aufwand, der einzelne Polizeidienststellen ganz schön in Schwierigkeiten bringen kann. Erfahrungswerte gibt es nicht. Die Entscheidung, wann eine Suche personell heruntergefahren wird, muss der Dienststellenleiter treffen und auch verantworten.
Noch am Abend von Elias’ Verschwinden fanden sich mehrere Hundert Bürger zusammen, die in Suchtrupps das Stadtviertel absuchten. Dies lief drei Tage. Ist das sinnvoll oder kontraproduktiv, werden womöglich Spuren verwischt?
Es hat Vor- und Nachteile, ist aber auch nicht zu verhindern. Die Menschen wollen helfen, sie wollen etwas tun und nicht nur auf gute oder traurige Nachrichten warten. Damit müssen wir umgehen. Die Polizei wird ihre Strategien unabhängig davon umsetzen.
Zehntausende kommunizieren zu dem Fall über Facebook. Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke in solchen Fällen?
Die sozialen Netzwerke sind ein sehr gefährliches Medium, weil hier sehr schnell Stimmungen entstehen und wieder kippen können. Wir haben auch schon Fälle gehabt, in denen Tatverdächtige, die sich letztlich als unschuldig herausstellten, vorverurteilt und für die Bestrafung gefordert wurden.
Wie muss die Polizei in den sozialen Netzwerken präsent sein?
Aus den eben genannten Gründen ist die deutsche Polizei sehr vorsichtig bei der Einbeziehung sozialer Netzwerke. Das Bundeskriminalamt hat das in Fällen von Kinderpornografie einige wenige Male gemacht. Bei der Identifikation eines noch unbekannten Opfers kann das hilfreich sein. Bei der Suche nach einer vermissten Person aber ist es problematisch, weil es die Ermittlungen durch Spekulationen und falsche Anschuldigungen auch in eine falsche Richtung lenken kann. Die einzig sinnvolle konkrete Nutzung sozialer Netzwerke in diesem Fall wäre eine Personenfahndung.
Die Mutter gibt an, eine Stunde nicht nach ihrem Sohn geschaut zu haben, als dieser auf dem Spielplatz vor dem Wohnhaus spielte. Ist das zu lange?
Das kann man nicht pauschal sagen. Bei der Frage der Aufsichtspflicht spielen viele Dinge eine Rolle. Kinder dieses Alters gehen in die Schule, oft genug sind sie auf dem Nachhauseweg auch unbeaufsichtigt. Es kommt darauf an, was man mit seinem Kind geübt und welche Verhaltensweisen man mit ihm trainiert hat, etwa, Bescheid zu sagen, wenn man den Spielplatz verlässt und woanders hingeht.
Bislang gibt es kaum Zeugen. Auch der Bund der Kriminalbeamten hatte kritisiert, dass Passanten oft wegschauen, wenn sie kleine Kinder allein sehen. Spielt das in solchen Fällen eine Rolle?
Wenn ich in einen großen Freizeitpark gehe und ein kleines Kind sehe, das allein ist und sich offenbar in einer Notlage befindet, dann bleibe ich bei dem Kind und helfe ihm. Aber das macht nicht jeder, manche nehmen solche Situationen auch gar nicht wahr. Wenn man sich aber zu sehr kümmert, macht man sich auch angreifbar. Dann kommt der Vorwurf „Das geht Sie nichts an, das sind doch fremde Kinder.“ Die Welt ist komplexer geworden und vorbildliches Verhalten nicht immer umzusetzen.
Quälend für die ganze Stadt ist die Ungewissheit: Wo ist bloß das Kind, von dem jede Spur fehlt? Aus Ihrer Erfahrung heraus: Was ist in solchen Fällen tatsächlich passiert?
Wir haben quer durch Deutschland Fälle, wo Mädchen und Jungen zu sogenannten Langzeitvermissten wurden und von denen man über viele Jahre und Jahrzehnte nie erfahren hat, was mit ihnen passiert ist. Es muss ja nicht immer ein Verbrechen geschehen sein, es könnten Unglücke oder Notsituation eingetreten sein, aus denen sich die Betreffenden vielleicht sogar noch befreien konnten und trotzdem wurden sie nicht gefunden. Deshalb ist es auch in Elias’ Fall so wichtig, so viele Optionen wie möglich abzuklären. Denn solange der Junge verschwunden bleibt, wird bei den Angehörigen und Menschen in seiner Umgebung immer eine offene Wunde bleiben. Das ist ein Albtraum.
Immer wieder verschwinden Kinder. Wenn sie nach einigen Tagen nicht gefunden sind, gibt es dann überhaupt noch Hoffnung?
Wie müssen uns mit jedem Tag mehr damit auseinandersetzen, dass etwas passiert ist, woran wir nicht denken mögen. Fälle wie der von Natascha Kampusch, wo jemand über lange Zeit gefangen gehalten, aber letztlich doch lebend gefunden wurde, sind sehr selten und fallen statistisch gesehen kaum ins Gewicht.
Kann man das Verschwinden eines Kindes überhaupt verhindern?
Wir müssen als Gesellschaft versuchen, im präventiven Bereich dafür zu sorgen, dass alle Eltern die Möglichkeit bekommen, ihre Kinder so zu erziehen, dass es Persönlichkeiten werden, dass wir weniger Fälle von häuslicher Gewalt haben, dass wir weniger Fälle haben, wo sich Eltern in ihrer Rolle überfordert fühlen. Auf diesen Feldern kann man etwas tun. Das Beste wäre, die Kinder so zu erziehen, dass sie mit niemandem, auch nicht Bekannten oder Freunden, mitgehen, ohne ihre Eltern vorher um Erlaubnis zu fragen.
Das Interview führte Peer Straube
ZUR PERSON:
Adolf Gallwitz, 64, ist Deutschlands wohl bekanntester Polizeipsychologe. Beteiligt war er unter anderem an der Ergreifung des Schwerverbrechers Frank Schmökel, der im Jahr 2000 aus dem Maßregelvollzug in Brandenburg ausgebrochen war. Bei der Jagd auf Schmökel, der schließlich nahe dem sächsischen Bautzen gefasst wurde, hatte Gallwitz Brandenburgs Polizei beraten. Bundesweite Bekanntheit erreichte der Professor für Psychologie und Soziologie mit der Sendung „Fahndungsakte“, die zwischen 1997 bis 2000 einmal pro Woche auf Sat.1 lief und in der es um ungelöste Kriminalfälle ging. Der Profiler Gallwitz arbeitet unter anderem als Gutachter, etwa für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
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