Erinnerung an Pogromnacht 1938: "Der Ton ist hier rau, aber herzlich"
Hugo Meyerhof erlebte als 14-Jähriger den Überfall auf das Jüdische Schulheim in Caputh im November 1938, er starb ein halbes Jahr später. Seine Geschichte war in Potsdam unbekannt - bis sich eine Verwandte aus Belgien meldete.
Wenn nur die Langeweile nicht wäre! Hugo Meyerhof war gerade 14 Jahre alt geworden, als ihn seine Eltern ins Jüdische Landschulheim in Caputh schicken. Ein Foto zeigt ihn wenige Tage vor der Abreise im Garten zuhause in Hildesheim. Ein schmächtiger, aber aufgeweckter Junge, beim Spiel mit seinem Hund Max. Der guckt erwartungsvoll auf Hugos Hand, denn sie hält einen Ball, der jeden Moment wegfliegen wird. Am 7. Oktober 1938 bringen Edith und Otto Meyerhof ihren Sohn nach Caputh, in das von der jüdischen Reformpädagogin Gertrud Feiertag gegründete Landschulheim. Seit der Machtergreifung Hitlers nahm das nur noch jüdische Kinder auf, oft als letzte Station vor dem rettenden Exil.
Der Abschied von den Eltern, von Oma und Opa, der Schwester Annie und Max muss dem Jungen schwer gefallen sein, wie später aus den vielen und originellen Liebesbezeugungen in seinen Briefen deutlich wird. „1000 Nasenküsse“, lässt er seiner Mama per Post zukommen. Oder: „Viele Nasenküsse mit stürmischer Pustung, und Hübschmachungen mit verdrehten Augen“. Der Oma werden „1000 Knutschungen“ aus der Ferne zugedacht, auch der Hund - „seine Maxilität“ - wird nicht vergessen. Schon im ersten Brief, geschrieben an seine Mutter am Tag nach der Ankunft, hat er auch eine andere dringende Bitte: „Darf ich mal für einen Sonntag nach Berlin, hier ist es oft langweilig in den Ferien.“
Als Hugo Meyerhof seine ersten Zeilen nach Hause schickt, kann er nicht wissen, dass er nur einen Monat an der Caputher Reformschule bleiben wird, bevor er und seine Mitschüler von einem wütenden Mob nach der Reichspogromnacht fortgejagt werden. Dass er seinen 15. Geburtstag nicht mehr erleben und allein in England sterben wird. Dass seine Eltern später im Konzentrationslager in Auschwitz ums Leben kommen. Noch schreibt er den Eltern von den netten Jungs an der neuen Schule, den Spielen, die sie erfinden, dem Essen, das für seinen Geschmack zu viel ist: „Wenn man um dreiviertel elf Frühstück ißt, kann man nicht um dreiviertel eins Mittag essen“, notiert er in bestimmtem Ton. „Alle sind sehr nett zu mir und ich habe mich schon gut eingelebt“, lässt er seiner Schwester Annie an Tag fünf wissen: „Manchmal ist es hier etwas langweilig, aber es gibt auch Tage, die fabelhaft sind. Man kann sagen, der Ton ist hier rau, aber herzlich.“
Hugos Großnichte fand erst 2017 seine Briefe aus Caputh
Dass Hugos Geschichte jetzt, 82 Jahre später, erstmals in Potsdam bekannt wird, hat mit mehreren Zufällen zu tun. Da ist Annies Enkelin, Hugos Großnichte, die Belgierin Aude Busine. Die 44-Jährige ist vor drei Jahren bei ihrer Tante im Keller auf eine Kiste mit Fotos, Dokumenten und auch den Briefen ihres Großonkels Hugo gestoßen. In der Familie spricht aber niemand mehr Deutsch, und Hugo hatte seine Briefe außerdem in Sütterlinschrift verfasst. Aude Busine suchte in Potsdam nach Hilfe bei der „Übersetzung“ und fand nach der Vermittlung über die Gedenkstätte Lindenstraße und den Friedenskirchen-Pfarrer Simon Kuntze mit Christine Gottwald eine Potsdamerin, die die Briefe nun seit einigen Monaten Stück für Stück handschriftlich überträgt. Einmal mehr werden Hugos Briefe nun per Post ausgetauscht.
Für die 96-jährige ehemalige Katechetin Christine Gottwald ist die Arbeit sehr bewegend, wie sie den PNN sagte. Wenn Hugo noch leben würde, wäre er jetzt genauso alt wie sie. Sein tragisches Schicksal ruft auch Erinnerungen an ihre eigene Kindheit in Nauen wach. An Judenhetze, oder wie sie in der Schule eingebläut bekam, „Heil Hitler“ zu grüßen. Aber auch, wie der Vater ihr sagte, dass sie den jüdischen Arzt der Familie auf der Straße immer mit Knicks begrüßen sollte. „Der Krieg hat zu viel kaputt gemacht“, sagt Christine Gottwald. Hugo sei für sie nun wie ein Freund geworden: „Ich hab ihn sehr gern, diesen kleinen Kerl. Er lebt ja noch in mir“, sagt die 96-Jährige. Und freut sich über jeden neuen Brief, den sie „übersetzen“ kann.
Hugo fühlte sich in Caputh wohl
Hugos Eltern Edith und Otto müssen damals froh gewesen sein, ihren Sohn an einem beschützten Ort zu wissen. Schikanen gegen Juden gehörten längst zum Alltag in Deutschland. Aude Busine berichtet, dass der Junge vorher an seiner alten Schule in Hildesheim von den Mitschülern wieder und wieder angriffen worden war, ohne dass die Lehrer einschritten.
In Caputh fühlt sich Hugo wohl. Es sind unbeschwerte Briefe, die fast täglich nach Hildesheim gehen. Seiner Schwester vertraut er an, er habe sich auch mit einem Mädchen befreundet: „Du brauchst aber keine Angst zu haben, aus einer Ehe wird nichts.“ Am 17. Oktober unternehmen die Jungen einen Ausflug zur Synagoge in Potsdam, Hugo ist beeindruckt: „Der Innen-Raum ist zwar klein, aber fabelhaft. Vom Vorbeterpult bis zum Thoraschrank ist alles Marmor.“ Nach dem Besuch bekommt er zu seiner Freude ein Tütchen Bonbons.
Gut drei Wochen später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, wird ein von der SS angeführter Schlägertrupp das Gotteshaus plündern und verwüsten. Die Fenster werden eingeschlagen, die Leuchter heruntergerissen, die Sitze des Rabbiners zerhackt, die Thorarollen in Stücke gerissen. Dass die Potsdamer Synagoge – anders als in vielen anderen deutschen Städten – nicht in Brand gesteckt wird, liegt nur daran, dass sie direkt neben der Hauptpost am heutigen Platz der Einheit lag.
Und Hugo? Er wird am Morgen des 10. November 1938 Zeuge des Überfalls auf das Jüdische Landschulheim. Eine aufgebrachte Menge von 120 Caputhern, darunter SA-Uniformierte, Lehrer und Schüler aus der Dorfschule, wirft die Fensterscheiben ein, stürmt ins Haus und jagt alle heraus. Drinnen werden die Geigen und der Flügel zertrümmert, Schulbücher zerrissen, Essen ausgekippt, der Boden mit Tinte beschmiert. Ein Gewaltexzess, über den in Caputh bis heute nicht gern geredet wird, wie Potsdamer Schüler 2018 bei einem Geschichtsprojekt feststellen mussten. Es war auch das Ende des Jüdischen Landschulheims.
Flucht im Schlafanzug nach Berlin
Bekleidet im Schlafanzug schaffte es Hugo Meyerhof, das berichtet seine Großnichte Aude Busine, an jenem Tag irgendwie allein zur Wohnung seines Onkels in Berlin. Nur seinen Zirkelkasten hatte er mitnehmen können. Seine Eltern setzten alle Hebel in Bewegung, um den 14-Jährigen an einen sicheren Ort außer Landes zu bringen. Hugos ältere Schwester Annie studierte zu dem Zeitpunkt bereits in der Schweiz. Edith Meyerhof stellte noch am 13. November einen Visumsantrag für ihren Sohn im amerikanischen Konsulat in Hamburg. Hugo nimmt Englischunterricht. Die meisten jüdischen Freunde haben die Stadt schon verlassen. Zur Beerdigung seines Großvaters im März 1939 kommt die Familie ein letztes Mal zusammen, auch Annie reist aus Basel an.
Ende April 1939 wurde Hugo allein mit dem Flugzeug von Hamburg nach London geschickt. Er besuchte ein Internat in der Nähe von Canterbury: die New Herrlingen School. Aber nicht nur mit der englischen Sprache tat er sich schwer. Am 17. Juni 1939 starb Hugo Meyerhof an den Folgen einer Krankheit. Er ist auf dem jüdischen Friedhof Eastham in London begraben.
Hugos Großmutter ist in Theresienstadt gestorben, seine Eltern in Auschwitz
Seine Eltern mussten 1941 ihr Haus in Hildesheim verlassen, sie lebten bis Juli 1942 in einem sogenannten Judenhaus. Dann wurden sie gemeinsam mit Hugos Großmutter Elsa nach Theresienstadt deportiert. Elsa starb dort, Otto und Edith Meyerhof wurden im Oktober 1944 nach Auschwitz verschleppt, wo sich ihre Spur verliert. Edith hatte die Briefe ihres Sohnes vor ihrer Abreise in Sicherheit gebracht, so dass seine Schwester Annie sie nach dem Krieg 1948 zurückerhielt.
Über ihre schmerzliche Vergangenheit in Deutschland hat Annie Loebenstein, die mit ihrem Mann in dessen belgische Heimat gegangen ist, mit ihrer Familie nicht viel gesprochen, sagt ihre Enkelin Aude Busine. Ihre Doktorarbeit in physikalischer Chemie hat sie dem jung verstorbenen Bruder gewidmet. Und Bilder der Familie, auch von Hugo, hingen bis zu ihrem Tod 2010 im Alter von 96 Jahren neben ihrem Bett. „Als ich zum ersten Mal schwanger war, schlug sie vor, dass ich mein künftiges Kind Hugo oder Otto nennen sollte, falls es ein Sohn wird“, sagt Aude Busine. In Hildesheim erinnern seit dem vergangenen Jahr fünf Stolpersteine vor dem Haus mit der Adresse Zingel 18 an die Meyerhofs.
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