„Erinnern an das Erinnern“: Unbequeme Vergangenheit
Humboldtschüler forschen zum jüdischen Landschulheim in Caputh – und wünschen sich eine bessere Erinnerungskultur.
Potsdam - Es gibt eine Haltestelle in Caputh, die nach Gertrud Feiertag benannt ist. „Jedes Mal, wenn ich jetzt dort vorbeifahre, muss ich an die Geschichte des Kinderheims denken“, sagt Armin Scheffler. „Was alles hinter dem Namen steckt – das habe ich früher gar nicht realisiert.“ Der Zwölftklässler des Potsdamer Humboldtgymnasiums gehört zu den etwa 20 Schülern, die in den vergangenen zwei Jahren an einem besonderen Medienprojekt teilgenommen haben: Sie haben versucht, die Geschichte rund um das einstige jüdische Kinder- und Landschulheim Caputh zu erforschen und zu dokumentieren.
Nicht alles, was sie herausfanden zu dem Heim, das 1931 von Gertrud Feiertag gegründet und bis zu seiner Zerstörung 1938 von ihr geleitet wurde, war neu. Neu ist, dass es den Schülern auch um die Erinnerungskultur an sich geht. „Erinnern an das Erinnern“ heißt die umfangreiche Ausstellung. Das Erinnern darf nicht vergessen oder versäumt werden, so kann das Thema verstanden werden. Am morgigen Donnerstag wird die Ausstellung in der Schule eröffnet. Die Veranstaltung ist öffentlich. Die Schüler werden die Gäste zu den im Schulkomplex verteilten Stationen führen und über ihre Arbeit sprechen. Die Ausstellung kann dann jederzeit während der Öffnungszeiten der Schule besichtigt werden.
28 Ausstellungstafeln erzählen Geschichte aus verschiedenen Perspektiven
Die 28 Ausstellungstafeln erzählen dabei gleich mehrere Geschichten aus verschiedenen Perspektiven: Da ist einerseits das Heim selbst inmitten der Judenverfolgung. Die Biografien der mehr als 100 Kinder, die – auch die wenigen, die überlebten – Opfer des Systems waren. Die Biografie der ausgebildeten Erzieherin und Unternehmerin Gertraud Feiertag, die mit ihrer Vision eine Einrichtung der Reformpädagogik gründete und 1943 in Auschwitz- Birkenau ermordet wurde. Die Geschichte der Lehrerin Sophie Friedländer, die noch nach London emigrieren konnte und sich von dort aus für jüdische Kinder einsetzte. Es geht zudem um die Frage, wie sich die Caputher damals verhalten haben und wie man dort heute mit diesem unschönen Teil Ortsgeschichte umgeht.
Eine Ebene, die wiederum mit der aktuellen Erinnerungskultur und -praxis zu tun hat. Hier liegt sogar der Ursprungsgedanke zu dem Projekt: Die Schüler wollten und wollen ihr Forschungsprojekt nachhaltig und dauerhaft präsentieren und vor allem sichern. Damit nichts wieder verschwinden kann. Denn Mitte der 1990er-Jahre existierte bereits eine ähnliche Ausstellung von Studenten der Fachhochschule. Die erst im Keller der FH gelagert wurde und eines Tages unter ungeklärten Umständen einfach verschwand, erzählt Hans Dieter Rusch. Er war damals an der Recherche beteiligt und drehte dazu sogar einen kurzen Film. Viele Originalaufnahmen aber gingen verloren. „Es gab die Ausstellung an sich, aber auch etliche Kassetten mit Interviews der Zeitzeugen – aber kein Archiv, kein Museum wollte sie haben. Niemand fühlte sich für so etwas zuständig.“ Dieser Umgang mit der Geschichte frustriert ihn.
„Verdrängtes holt einen irgendwann ein“
Jetzt betreut er seit Jahren die Film-AG am Humboldtgymnasium und gab nun den Anstoß, die Geschichte des Caputher Heims noch einmal zu belichten. Da ist noch lange nichts auserzählt, sagt Rutsch. Allerdings existieren immer weniger Zeitzeugen. Dafür gestaltet sich die Suche heute mit Hilfe des Internets etwas leichter als vor 20 Jahren. Die Schüler, sagt Rutsch, haben ihn überrascht. „Turbosucher“ nannte er Jugendliche wie Jakob Thöne, die sich plötzlich von dem Thema mitreißen ließen und ganz in der weltweiten Recherche vertieften. Thöne befasste sich intensiv mit der Biografie eines ehemaligen Schülers, spürte seine Familie und Freunde in den USA auf. Auch Henok Lachmann stieß auf eine dichte Spur, bekam einen Brief-Nachlass zur Verfügung gestellt und fand heraus, dass ein Schüler sogar Kontakt zu Albert Einstein hatte. „Ich hätte nie gedacht, dass man da noch so viel findet.“ Sie haben Jahrbücher durchgesehen, Behörden und Botschaften um Mithilfe gebeten.
In Caputh und der Gemeinde Schwielowsee ist das Thema allerdings nach wie vor schwierig, sagt Rutsch. Erst nach langem Zureden habe man die CDU-Bürgermeisterin zu einem Interview überreden können. Dann aber lobte Kerstin Hoppe die Schüler für ihren Mut, das Thema anzugehen. Und sagte: „Verdrängtes holt einen irgendwann ein.“
„Erinnern an das Erinnern“
Nur wenige im Ort wissen, was am 10. November 1938 dort geschah: Dass Nazis die Kinder der örtlichen Schule aufstachelten und unter dem Schlachtruf „Es ist so weit, heute jagen wir die Juden raus!“ mit ihnen gemeinsam das Heim stürmten, alles verwüsteten, die Kinder in den Wald jagten. Dazu gibt es Berichte von Zeitzeugen, die hier mitmachten, und von den Vertriebenen. Und es gibt noch immer Familien in Caputh, deren Vorfahren darin verwickelt waren. Es ist ein unangenehmes Thema und es fällt den Menschen schwer, darüber zu reden, oder sie verdrängen es komplett, so Rutschs Eindruck. Manchmal habe er dabei das Gefühl, dass das Unausgesprochene dennoch da ist: In so manchem Haus oder Dachboden könnten noch Dinge, Möbel oder Spielzeuge, stehen, die bei der Plünderung aus dem Heim geholt wurden.
Umso mehr freut es ihn, dass die Schüler sich auf das Thema einließen. „Wir diskutieren heute über alle möglichen globalen Themen“, sagt die Schülerin Tanja Schirmag. „Und vergessen dabei zu oft, was unmittelbar vor der eigenen Haustür passierte.“ Darum wollen sie „erinnern an das Erinnern“.
Eröffnung am morgigen Donnerstag um 10 Uhr im Humboldt-Gymnasium, Heinrich-Mann-Allee 103
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