Überfall auf jüdisches Landschulheim in Caputh: „Raus! Raus! Sofort raus!“
Vor 80 Jahren überfielen Nationalsozialisten das jüdische Landschulheim in Caputh. Sie zerstörten und liquidierten einen Ort, der jüdischen Kindern Zuflucht bot. Die meisten von ihnen überlebten den Holocaust nicht.
Caputh – Ohne Lehrplan, ohne staatliche Anerkennung, dafür mit viel Freiheit und Musik: Das jüdische Kinder- und Landschulheim, gegründet 1931, direkt am Ortseingang Caputh gelegen, war eine Schule, die anders war. Die Geschichte dieses Landschulheimes, das die Reformpädagogin Gertrud Feiertag mit dem Kauf der heute noch existenten Fachwerkvilla eines einstigen Schokoladenfabrikanten 1931 ins Leben rief, beschäftigt seit Jahren Ingeborg Papenfuß. Die 67-jährige Kleinmachnowerin arbeitet als freie Radiojournalistin und hat sich vor Jahren auf Spurensuche begeben. Sie traf sich mit den letzten Zeitzeugen, Schülern und Lehrern, die damals in Caputh lebten. Papenfuß reiste dafür nach London, Israel und Schweden. Herausgekommen ist ein eindringliches Radiofeature, das auch mehr als zehn Jahre nach seiner Erstausstrahlung noch immer gesendet wird.
100 jüdische Kinder lebten in Caputh
Einst lebten in Caputh bis zu 100 jüdische Schüler, vom Kleinkind bis zum Teenager, auf bis zu sechs Häuser im Ort verteilt. Auch Albert Einsteins Sommerhaus gehörte dazu, nachdem der Nobelpreisträger 1933 nach seinem Sommeraufenthalt in Princeton nicht mehr zurückgekehrt war.
Es war ein Kommen und Gehen, erzählt Ingeborg Papenfuß aus ihren Rechercheergebnissen. Aufgenommen wurden jüdische Kinder und Lehrer, die an deutschen Schulen nicht mehr erlaubt waren. Für jüdische Lehrer gab es ab 1933 ein Berufsverbot. „Mich hat die Begeisterung, wie dort gearbeitet wurde, fasziniert“, sagt Papenfuß. Sie hat für ihr Radiostück auch die damals 20-jährige, frisch ausgebildete Lehrerin Sophie Friedländer interviewt. Papenfuß traf die zierliche Frau mit den weißen Haaren in London. Derzeit war Sophie Friedländer 91 Jahre alt.
Caputh als eine „Oase in der Wüste“
Hier wird man nie wieder wegwollen, soll sie gesagt haben, als sie für ihr Einstellungsgespräch 1933 zum ersten Mal nach Caputh kam. Für sie waren das Leben und die Arbeit in Caputh eine „Oase in der Wüste“. Die Wüste war Nazi-Deutschland.
Doch auch in Caputh versuchten die Lehrer den Kontakt zwischen jüdischen und deutschen Schülern zu vermeiden. Zu groß die Angst von dem Ort am Waldrand von Caputh vertrieben zu werden. Doch trotzdem muss es heiter zugegangen sein im Landschulheim, sagt Ingeborg Papenfuß.
Die Gründerin und Leiterin des Heimes Gertrud Feiertag, von allen „Trudebude“ genannt, gab der jungen Sophie Friedländer nur eines mit: Sie habe alle Freiheiten, ihren Unterricht so zu gestalten, wie sie wolle, müsse sich aber mit Haut und Haaren einbringen. Jeder Erwachsene war an der Schule für mehrere Bereiche verantwortlich, Tag und Nacht, die Kinder mussten ja rund um die Uhr betreut werden. Lehrer und Betreuer brachten ihre Talente und ihr Wissen ein, gaben ihr Bestes, erinnert sich Friedländer. „Diese Freiheit, zu tun, was man für richtig hielt“, sei toll gewesen.
Stolperstein und Gedenktafel erinnern an die Leiterin
Heute wird die Villa als Mutter-Kind-Heim genutzt, vor Ort erinnern ein Stolperstein und eine Gedenktafel an die Leiterin des jüdischen Landschulheimes. Es war Gertrud Feiertag, die das Heim geprägt hat, die als Reformpädagogin von einer ganzheitlichen Erziehung überzeugt war. „Die geistige Luft eines Hauses entscheidet über das Miteinander“, heißt es in Schriften von Gertrud Feiertag.
Wie besonders diese Luft war, bekam man schon beim Frühstück zu spüren: Jeder Morgen begann im großen Esssaal mit Kakao, Brot und einem Klavierkonzert. Musiklehrer Hans Eppstein, der sich später als renommierter Bachforscher einen Namen machte, spielte am Flügel klassische Stücke. Karg, aber nie eintönig, so beschreibt er seine Musik in einem Brief an Ingeborg Papenfuß. Eppstein begann erst, wenn vollkommene Stille im Raum herrschte.
Musik, Malerei und Ausflüge
Überhaupt wurde viel Wert auf schöngeistige Bildung gelegt. Musik, Theater, Malerei, Literatur sowie Ausflüge in die Havellandschaft oder zur Baumblüte nach Werder. Den Lehrern stand offen zu unterrichten, wie und was sie wollten. Viele der Kinder lernten erst in Caputh Grundregeln des Judentums. „Wenn man schon vertrieben wird, muss man wenigstens wissen, wo man hingehört“, so eine damalige Schülerin im Radiofeature.
„Das oberste Ziel war es, den Kindern so lange es ging ein intaktes Kinderleben zu ermöglichen“, erzählt Ingeborg Papenfuß. Die Eltern der Kinder wollten sie im entfernten Caputh in Sicherheit wissen, während sie selbst die Flucht vorbereiteten. Manche von ihnen waren bereits von der Deportation bedroht, andere hausten illegal in Verstecken.
Die Kinder durften in Caputh frech sein, „geduckte und obrigkeitstreue Kinder wollte man nicht haben“, betont die Kleinmachnower Journalistin. Die Erziehung war frei und darauf ausgerichtet, die Kinder auf das spätere Leben im Exil vorzubereiten. So wurden bereits den Kleinsten mehrere Sprachen beigebracht, es gab Werkunterricht, Kinder sollten nach ihren Ausflügen Landkarten ihrer Tour aufmalen. Die Schule besaß einen großen Schulgarten, man versorgte sich größtenteils selbst. Für den örtlichen Bäcker, Metzger und Krämerladen war das jüdische Landschulheim dennoch ein guter Kunde.
Bereits 1935 wurde vor Angriff auf Landschulheim gewarnt
Einige Jahre vor dem Überfall des Heims von ortsansässigen Nazis, SA-Leuten und Lehrern am 10. November 1938 gab es bereits Warnungen, dass das Landschulheim angegriffen werden solle. Übergriffe häuften sich. 1935 erstattete Gertrud Feiertag deshalb Anzeige bei der Polizei. Es war die Zeit, in der Lehrer und Erzieher mit den Kindern lange Wanderungen durch den Wald machten, am Tag und in der Nacht. Für die Kinder waren das spannende Ausflüge, die Erwachsenen probten für den Ernstfall.
Am Morgen des 10. November war es soweit. Eine aufgebrachte Menge von 120 Caputhern, darunter SA-Uniformierte, Lehrer und Schüler der Dorfschule, warfen die Fensterscheiben ein, stürmten das Haus und brüllten: „Raus! Raus! Sofort raus!“
„Gertrud Feiertag stellte sich vor den Anführer und bat darum, wenigstens die Kinder gehen zu lassen“, sagt die Kleinmachnower Journalistin Papenfuß. Jeder Erwachsene zog mit rund 15 Kindern los durch den Wald zur nächsten Bahnstation. Man lief getrennt voneinander, versuchte die Kinder nach Berlin zu ihren Eltern zurückzubringen.
Derweil wurden in Caputh die Geigen und der Flügel zertrümmert, die Schulbücher zerrissen, Essen ausgekippt, der Boden mit Tinte beschmiert. Und alles aus dem Fenster geschmissen, was nicht niet- und nagelfest war. Es war das Ende des jüdischen Landschulheims in Caputh.
Nicht alle Kinder fanden ihre Eltern in Berlin wieder. Manche Türen blieben verschlossen, die Lehrer versuchten die Kinder, deren Eltern bereits deportiert waren, bei Verwandten unterzubringen. Von den Caputher Kindern haben nach Recherchen von Ingeborg Papenfuß nur etwa 40 überlebt. Gertrud Feiertag, selbst jüdischen Glaubens, flüchtete nicht ins Exil. Sie kümmerte sich in Berlin um Kinder, deren Eltern nicht mehr da waren, versuchte sie ins rettende Ausland zu verschicken. Sie wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.