Potsdam: Als sei nichts geschehen
In der Pogromnacht vor 75 Jahren wurden Potsdamer Juden verschleppt, die Synagoge zerstört, die Kapelle abgebrannt. Ein Protokoll
Der Anruf kommt drei Uhr nachts. So ist es im örtlichen SS-Diensttagebuch vom 10. November 1938 nachzulesen. Per Telefon wird ein Befehl des Reichsführers der SS durchgegeben. Sämtliche Synagogen seien sofort niederzubrennen: „Anzug Räuberzivil, Plünderungen verboten.“ Die Vollzugsmeldung solle innerhalb von zwei Stunden geschehen. SS-Oberführer Gustav Stolle und seine Männer brauchen etwas länger. Was genau in den Nachtstunden vom 9. zum 10. November in Potsdam geschah, hat Volker Schockenhoff für sein Buch „Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist“ über das Schicksal der Potsdamer Juden in der NS-Zeit recherchiert.
Um 5.30 Uhr dringt eine fünfköpfige Abordnung mit einem Gestapo-Beamten als Anführer in die Wohnung von Herrmann Schreiber, dem Rabbiner der Synagogengemeinde. Die Männer fordern die Schlüssel für die Synagoge, berichtet Schreiber später. An dem Gotteshaus habe bereits eine 20 bis 30 Mann starke Bande gewartet. Sie wüten in blindem Hass los: Die Fenster der Synagoge werden mit hölzernen Übungsgranaten eingeschlagen, Leuchter heruntergerissen, Bänke zerschlagen, die Sitze des Rabbiners zerhackt, die Vorhänge des Thoraschreins zerfetzt, die Thorarollen in Stücke gerissen, der große Chanukaleuchter als Brechstange genutzt. In nur fünf Minuten habe sich die Synagoge in einen Trümmerhaufen verwandelt. Nicht nur am Wilhelmplatz sind die Randalierer unterwegs. Auch die jüdische Kapelle auf dem Pfingstberg wird ausgebrannt, wie das SS-Diensttagebuch vermerkt.
Aber die Gewalt richtet sich nicht nur gegen Gebäude: Alle Männer der jüdischen Gemeinde Potsdam werden in der Pogromnacht verhaftet, nur die Über-70-Jährigen wieder freigelassen. Der Händler Abraham Kallmannsohn etwa wurde am 9. November ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt, wo er bis Anfang Januar 1939 saß, ehe er für weitere vier Monate im Polizeigefängnis Potsdam festgehalten wurde. Sein Herrenbekleidungsgeschäft in der Schwerdtfegerstraße, Ecke Kaiserstraße, wurde am 9. November geplündert und zerstört. „Überall spontane antijüdische Aktionen“ titelte die Potsdamer Tageszeitung am 10. November 1938, berichtet von Angriffen auf „jüdische Läden“ und zerschlagenen Schaufenstern und fabelt etwas von angeblich in der Synagoge gefundenen Waffen.
Um 9 Uhr an jenem Morgen kann Stolle die Rückkehr seines SS-Schlägertrupps vermerken. Deutschlandweit werden in dieser Nacht mehrere hundert Synagogen abgebrannt, etwa 100 zerschlagen. Mindestens 8000 jüdische Geschäfte demoliert und zahlreiche Wohnungen verwüstet. Rund 100 Juden werden ermordet und zehntausende in Konzentrationslager verschleppt. Der brutale nächtliche Einsatz stört den Alltag in der Potsdamer SS-Dienststelle offenbar keineswegs: Schon am Nachmittag werden Akten bearbeitet und umgeordnet, ein Sachbearbeiter kümmert sich um Dienstgeschäfte, als sei nichts geschehen.
Ein Bild der Zerstörung hat Hans Weber damals mit der Kamera festgehalten: Sein Foto zeigt Passanten, die sich vor der Synagoge mit den zerschlagenen Scheiben versammeln – das Haus war 35 Jahre vorher unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit als neues Schmuckstück am Wilhelmplatz eingeweiht worden.
Unter offen antisemitischen Schikanen litten die Potsdamer Juden – 1925 verzeichnete die Statistik noch 626 Gemeindemitglieder – aber schon länger. Im April 1933 war es nach dem Boykottaufruf der NSDAP zu Tumulten in der Brandenburger Straße und der Nauener Straße, der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, gekommen. Schon 1934 und 1935 wurde das jüdische Landschulheim im nahen Caputh überfallen – am 10. November 1938 wurden die Kinder beim Frühstück von den mit Äxten ausgestatteten Angreifern überrascht. Nach der Pogromnacht verschärften sich Gewaltaktionen gegen Juden beziehungsweise gegen Einwohner, die nach den NS-Rassegesetzen als Juden klassifiziert wurden. Wer nicht aus freien Stücken ging, dem drohte bald die Deportation.
„Potsdamer Judengeschäfte verschwinden“ vermeldet die Potsdamer Tageszeitung schon am 15. November 1938. Die Synagoge wird von der Post als „Posthörsaal für Rundfunk- und Fernsehgemeinschaftsempfang“ genutzt. Im Mai 1939 war die Zahl der „Glaubensjuden“ auf 175 gesunken, ab 1940 wurde die Gemeinde zum Verein degradiert. Im Januar 1942 wurden 40 Frauen, Kinder und Männer aus Potsdam über Berlin nach Riga deportiert – für die meisten der Weg in den sicheren Tod. Als der 62-jährige Potsdamer Bankierssohn Wilhelm Kann am 29. Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, galt die Stadt als „judenrein“.
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