Forschung im ewigen Eis: Coronavirus bremst Potsdamer Polarforscher aus
Der Potsdamer Forscher Markus Rex sollte nun auf die „Polarstern“ am Nordpol zurückkehren, wegen eines Corona-Falls verzögert sich allerdings die Abreise.
In diesen Tagen sollte der Potsdamer Polarforscher Markus Rex zum Forschungsschiff „Polarstern“ aufbrechen, das aktuell in einer Eisscholle eingefroren durch das Nordpolarmeer driftet. Mit dem Flugzeug sollte es mit Zwischenstopp in Spitzbergen Richtung Nordpol gehen, für Eisbrecher ist das Eis mittlerweile zu mächtig. Doch wie das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) den PNN am Dienstag mitteilte, wurde der Start der Flugkampagne verschoben. Am Freitag war bei einem Teilnehmer aus Bayern eine Infektion mit dem Coronavirus festgestellt worden. Die Teilnehmer des Vorbereitungskurses stünden derzeit unter Quarantäne und sollen erst im Anschluss an der Kampagne teilnehmen, hieß es. Markus Rex, der die Expedition leitet, muss nicht in Quarantäne, da er an dem Einführungskurs nicht teilgenommen hatte. Voraussichtlich am 18. März sollen die Flüge nun auf Spitzbergen eintreffen, wo vor dem Weiterflug zur „Polarstern“ alle Teilnehmer ein zweites Mal auf Corona getestet werden, um das Risiko der Einschleppung einer Coronainfektion zu minimieren. Die Teilnehmer waren vor dem Antritt des vierten Fahrtabschnittes der Expedition vorsorglich auf das Coronavirus getestet worden.
Größte Expedition ihrer Art
Am 4. Oktober 2019, um 21.30 Uhr Bordzeit war es soweit gewesen, die Zielscholle für die „Polarstern“ war identifiziert und festgelegt: „Maschinen Stopp, eine erste Begehung des näheren Umfelds von FS Polarstern war möglich!“, heißt es im digitalen Logbuch der Polarforscher. Nun begann der eigentliche Teil der Expedition: das Driftexperiment. Das Forschungsschiff wurde in das Eis eingefroren. Was recht gewöhnungsbedürftig für die Crew war. „Das Schiff liegt wie in Beton gegossen“, erinnert sich der Potsdamer Polarforscher Markus Rex, der in der ersten Phase der Expedition auf dem Forschungsschiff war, im Januar nach Potsdam zurückgekehrt war und nun eigentlich wieder zur „Polarstern“ fliegen sollte.
Man erwarte auf einem Schiff immer, dass man sich beim Treppensteigen festhalten muss. „Doch da war plötzlich nichts mehr, keine Bewegung“, erinnert sich Rex. Schließlich habe man sich an die gespenstische Ruhe auf dem Schiff gewöhnt. „Doch dann ging völlig unerwartet ein Stoßen und Zittern durch das Schiff, es knallte und quietschte an der Bordwand“, so Rex. Es waren die Geräusche eines größeren Eisdruckereignisses: In der Nähe des Schiffs faltete sich ein Presseisrücken auf, der sich an der Bordwand haushoch auftürmte. Dabei konnte das Schiff schon mal zwölf Meter in das Eis hineingedrückt werden. Nach einigen Minuten aber war der Spuk vorbei – und alles wieder in völliger Ruhe.
Die „Polarstern“ driftet seit Oktober durch die Arktis, angedockt an eine riesige Eisscholle. Markus Rex, Atmosphärenphysiker an der Potsdamer Forschungsstelle des AWI und der Universität Potsdam, leitet die „Mosaic“-Expedition. „Mosaic“ steht für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“. Die „Polarstern“ hatte sich für die Polardrift auf einer etwa 2,5 mal 3,5 Kilometer messenden Eisscholle festfrieren lassen – nach dem Vorbild des norwegischen Forschers Fridtjof Nansen vor 125 Jahren.
Mosaic ist bislang die größte je durchgeführte Arktisexpedition. Sie dauert insgesamt ein Jahr, rund 600 Menschen aus 20 Nationen werden während der verschiedenen Phasen der Expedition an Bord sein. Die Wissenschaftler werden alle zwei Monate ausgetauscht. Allein sechs Eisbrecher werden dafür und zur Versorgung eingesetzt. Das Gesamtbudget beträgt rund 140 Millionen Euro, mit rund 75 Millionen Euro trägt Deutschland die Hauptlast. Ziel ist die Erkundung des Klimasystems in der Zentralarktis. Was von zentraler Bedeutung für das Klima insgesamt ist, schließlich ist die Region die Wetterküche Europas. Zum anderen ist die Arktis die Gegend der Erde, die sich weltweit am schnellsten erwärmt.
Mehrere Rekorde gebrochen
„Mosaic“ ist eine Expedition ins Unbekannte, sagt Markus Rex, eine Reise in die derzeit noch wenig bekannten Klimaprozesse der Zentralarktis. „Zum ersten Mal bringen wir einen Forschungseisbrecher ganzjährig in die Region inklusive des Winterhalbjahres“, so Rex. Die Expedition dringt in Regionen vor, in denen Wissenschaftler noch nie mit einem Schiff gewesen sind. Dabei wurden gleich mehrere Rekorde gebrochen. Am 24. Februar war die „Polarstern“ nur noch 156 Kilometer vom Nordpol entfernt. Nie zuvor war ein Schiff im Winter so weit im Norden. Zwei Tage später erreichte der russische Eisbrecher „Kapitan Dranitsyn“ kurz vor seinem Zusammentreffen mit der „Polarstern“ auf 88°28’ Nord die nördlichste Position auf seiner Mission. „Das ist an der Grenze des Machbaren“, sagt Rex. Ob das Forschungsschiff noch einmal näher an den Nordpol herankommt, ist zurzeit nicht sicher. „Aber wir haben bereits eine extrem dichte Annäherung gehabt.“
Ziel der Forschung soll sein, dass man der Öffentlichkeit und Politik genauer sagen kann, welches Klima bei welcher Menge freigesetzter Treibhausgase zu erwarten ist. Mittlerweile sind die Forscher nach mehreren Monaten der kompletten Dunkelheit am Ende der Polarnacht angelangt. „Die erste Dämmerung wurde am Horizont bereits ausgemacht“, so Rex. Ab April erwartet die Polarforscher das krasse Gegenteil, dann wird die Sonne rund um die Uhr vom Himmel brennen und das Eis auftauen. Erst im Juni werden die Versorgungseisbrecher wieder bis zur „Polarstern“ vordringen können, die dann dringend Treibstoff benötigen wird.
Aktuell sind die Bedingungen vor Ort aber noch extrem. Markus Rex hat ein Video mitgebracht, ein Forscher ist hier zu sehen, der sich durch einen heulenden Schneesturm vom Schiff zu den Messinstrumenten durchkämpft. Haare, Bart und Mütze sind dicht mit Eis bedeckt, die Stirnlampe muss möglichst warmgehalten werden, weil sonst die Akkus schlapp machen. „Im Moment haben wir es noch relativ frisch“, sagt Rex. In der vergangenen Woche wurden minus 36 Grad Celsius gemessen, mit dem Wind sind das gefühlte Minus 50 Grad. Es habe auch schon Windchill-Temperatur von minus 60 Grad gegeben. „Die Arbeitsbedingungen für uns sind vor Ort relativ hart.“ Hinzu komme, dass die Expedition zum jetzigen Zeitpunkt komplett isoliert ist. „Das Team ist völlig auf sich gestellt, Helikopter erreichen den aktuellen Standort nicht.“ Erst ab Mitte März werden die Flugzeuge voraussichtlich landen können. Die nächsten Menschen leben in einer Entfernung von mehr als 1000 Kilometern. „Was übrigens weiter entfernt ist als von der Weltraumstation IASS zur Erde.“ Auch würde eine etwaige Evakuierung von der „Polarstern“ länger dauern als von der IASS. „Wir brauchen Wochen, um jemanden bei schlechtem Wetter herauszubringen.“
In den Händen der Natur
Die Wissenschaftler sind den natürlichen Bewegungen des Eises, dem Eisdruck und den sich ständig bildenden Eisrissen ausgeliefert. „Wir sind dort tatsächlich in den Händen der Natur.“ Eine weitere Herausforderung der vergangenen Wochen ist die komplette Schwärze der Polarnacht. „Das ist eine brillante Schwärze, ohne jeden Einfluss, nur durchbrochen vom Licht der Stirnlampe.“ Es sei schwer, den Zusammenhang der Forschungsstation, die die Wissenschaftler mittlerweile auf der Eisscholle errichtet haben, in der Dunkelheit zu erfassen. „Man muss sich die einzelnen Bestandteile im Kopf zu einer Karte zusammensetzen, nur so funktioniert es“, sagt Rex.
Zu kämpfen haben die Forscher auch mit schweren Stürmen, die die Messvorrichtungen und Leitungen auf dem Eis zerstören können. Der Sturm schiebt zudem das Eis aufeinander, es kommt zu Presseis, das alles verschütten kann. Die Presseisrückenbildung sei sehr dynamisch. Wenn der Druck durch Wind zu groß wird, ist das Eis dem nicht mehr gewachsen und bricht plötzlich auf. „Es knallt völlig unerwartet ganz gewaltig, es fängt an zu rumpeln und zu kreischen, wenn die Eisschollen sich aneinander vorbeischieben.“ Das kann sich in ein paar Minuten abspielen aber auch Stunden dauern, es können sich dabei Eisrücken von bis zu sechs Metern Höhe bilden, wo zuvor noch alles ganz flach war. Die Wissenschaftler müssen dann schnell reagieren und ihre Messvorrichtungen retten beziehungsweise an einen anderen Ort verlegen.
Täglich müssen die Forscher auch damit klarkommen, dass das Eis aufreißt. Das wird gefährlich, wenn Schnee darüber weht, dann sind die Risse nicht mehr zu sehen und die Forscher können dort einbrechen. „Wir hatten schon viele nasse Füße und Beine“, berichtet der Polarforscher. Bisher sei zum Glück aber noch niemand komplett im Wasser gelandet. Für den Notfall sind die Forscher mit Anzügen ausgerüstet, die wie Korken auf dem Wasser schwimmen können. Jeder hat Eispiks in den Brusttaschen, die man ins Eis hacken kann, um sich schnell wieder hochzuziehen. Das Prozedere sei zuvor ausgiebig geübt worden. Unter der recht dünnen Eisschicht liegen rund 4000 Meter tiefes eiskaltes Wasser. „Da möchte man nicht hineinfallen.“
Die Arktis ist der Lebensraum der Eisbären. Auch das müssen die Forscher immer wieder in ihre Arbeit mit einbeziehen. Bei einem hungrigen Eisbären kann auch der Mensch Beute werden. „Deswegen haben wir ein sehr ausgefeiltes Sicherheitskonzept: Wärmebildkameras, Stolperdrähte mit Signalmunition bis hin zu bewaffneten Eisbärwächtern, die jedes Team begleiten.“ Bisher mussten die Polarforscher des AWI aber noch nie einen Eisbären erschießen. „Das spricht für unser Sicherheitskonzept“, meint Rex. Wenn ein Eisbär auftaucht, ziehen die Forscher sich aufs Schiff zurück.
Mittlerweile haben die Polarforscher mehr als 100 Tonnen wissenschaftliche Ausrüstung in einem Umkreis von rund zwei Kilometern um das Forschungsschiff auf dem Eis stehen, darunter auch mehrere Kilometer an armdicken Stromleitungen mit einer Leistung von fast 100 Kilowatt. „Das ist ein kleines Forschungsstädtchen, was da auf dem Eis steht.“ In einem Umkreis von rund 50 Kilometern gibt es weitere 64 Messstationen auf dem Eis, die zum Teil mit dem bordeigenen Helikopter angeflogen werden, um durch Eisbären verursachte Schäden zu beseitigen und um die Instrumente zu warten. „Es ist also ein ganzes Netzwerk an Stationen, das mit der ,Polarstern’ über das Polarmeer driftet“, erklärt der Potsdamer Forscher.
Die ungewöhnliche Wetterlage, die auch in Mitteleuropa mit vielen Stürmen und warmem Winter zu spüren war, brachte in der Arktis einen hohen Eisdruck durch den Wind. Das war auch der Grund, wieso die letzte Fahrt des russischen Versorgungseisbrechers „Kapitan Dranitysn“ sich um zwei Wochen verzögerte. Die Expedition konnte auch extreme Temperaturgefälle verzeichnen, wie etwa am 1. Februar, als die für diese Jahreszeit ungewöhnlich warme Temperatur von minus 11,4 Grad plötzlich auf minus 38,2 Grad Celsius sank. Angesichts der ungewöhnlichen Warmlufteinbrüche der vergangenen Jahre hatten die Forscher eigentlich erwartet, am Nordpol auch Regen zu erleben. Doch durch die ungewöhnliche Witterung mit einem extrem stark ausgeprägten Jetstream war die Arktis in diesem Jahr von Warmluftmassen praktisch isoliert. Der Regen fiel aus.
Das Klimasystem verstehen
Die Forscher bringen riesige Datenmengen von der Expedition mit zurück. Mehr als 100 komplexe Klimaparameter werden das ganze Jahr gemessen, dabei fallen pro Fahrtabschnitt knapp 100 Terrabyte an. Nun beginnt die Arbeit mit den Daten. „Das ist, wie wenn man eine Uhr öffnet, um ihre Funktion zu verstehen, dazu muss man die Aufgabe jedes einzelnen Zahnrädchens, Schräubchens und Federchens kennen.“ Dabei gebe es nicht das eine spektakuläre Ergebnis: „Wir sind nicht aufgebrochen, um zu schauen, ob rosafarbene Elefanten in der Arktis leben.“ Vielmehr will man die Mechanik des Klimasystems verstehen, um dies quantitativ beschreiben zu können und um ordentliche Klimamodelle zu bekommen. Und das dauere einige Jahre.
Die ersten beiden Phasen der Expedition fanden in der ewigen Dunkelheit der Polarnacht statt. Nun erwarten die Forscher den Polartag. In der Zeit bis zur Sommersonnenwende im Juni wird die Sonne immer länger scheinen, bis es den ganzen Tag hell ist. „Das wird wunderschön“, schwärmt Rex. Er beschreibt „unfassbare“ Farben am Himmel in der von Tag zu Tag heller werdenden Dämmerung: „Ein rosaorangener Streifen direkt über dem Horizont und darüber, man glaubt es kaum, ein intensiv grüner Bereich, der dann in tiefblau bis dunkelviolett bis zum Zenit übergeht – das sind fantastische Farben!“ Dann brennt die Sonne irgendwann rund um die Uhr auf das Eis, das nun auch zu tauen beginnt. „Und schlagartig verändert sich die Landschaft wieder komplett.“ Es bilden sich Schmelzeistümpel von intensivem Türkisgrün im leuchtenden Weiß des restlichen Eises. Dann wird es wieder spannend. „Eine der kritischen Phasen der Expedition“, sagt Rex. Denn nun müssen die Forscher darauf achten, dass ihre Messanlagen nicht im Tauwasser versinken.
Jan Kixmüller
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