Tauwetter am Nordpol: „Das ist dramatisch“
Der Nordpol könnte schon 2030 eisfrei sein und für die Eisbären sieht es schlechter aus als gedacht. Polarforscher Guido Grosse aus Potsdam erklärt im Interview, was in der Arktis wirklich los ist.
Herr Grosse, Sie haben signifikante Veränderungen in der Arktis durch die Erderwärmung festgestellt. Ist es bereits fünf nach Zwölf?
Ich würde sagen, es ist noch fünf vor zwölf. Für viele Entwicklungen ist es noch nicht zu spät, sie aufzuhalten. Wir beobachten allerdings sehr rapide Änderungen in der Arktis. Ich forsche seit 20 Jahren in der Region – und kann in diesem kurzen Zeitraum bereits Veränderungen erkennen. Und wenn wir uns die Satellitendaten anschauen, können wir zum Teil dramatische Modifikationen erkennen.
Zum Beispiel?
Am auffälligsten ist die Reduzierung des Meereises, das seit einigen Jahrzehnten stark auf dem Rückzug ist. In den vergangenen 15 Jahren gab es hier die drastischsten Veränderungen. Das hängt unter anderem mit starken Rückkopplungseffekten zusammen, die es in der Arktis zwischen Eis und Schnee gibt. Wenn es weniger Schnee und Eis gibt, wird weniger Wärmestrahlung der Sonne reflektiert – was dann wiederum die Erwärmung beschleunigt. Das wirkt sich sehr stark auf das Meereis aus. Zudem sehen wir bei den großen Eisschilden in Grönland ein sehr starkes Abschmelzen an der Oberfläche, das sich auf den Abfluss von Wasser auswirkt und somit den Meeresspiegel direkt ansteigen lässt. Hinzu kommt der Permafrost: die Erosion der Küsten in den Regionen mit eigentlich dauerhaft gefrorenen Böden verstärkt sich. Die Küsten werden durch den Frost eigentlich zusammengehalten. Durch das Tauwetter werden sie nun viel anfälliger und erodieren schneller.
Wann wird der Nordpol ganzjährig eisfrei sein?
Die Schätzungen kommen immer näher an uns heran. Vor 15 Jahren ging man noch davon aus, dass es Ende des Jahrhunderts soweit sein wird. Vor fünf Jahren hieß es Mitte des Jahrhunderts und heute gehen einige Experten davon aus, dass es bereits 2030 bis 2035 soweit sein könnte.
Wie können Sie relevante Veränderungen erkennen, die Daten der Satelliten reichen doch nur einige Jahrzehnte zurück?
Die Satellitendaten gehen zurück bis in die 1960er Jahre, die von modernen Satelliten reichen nur zehn bis 20 Jahre zurück. Mit Daten von Wetterstationen können wir höchstens 100 Jahre zurückschauen. Davor wird es mit Beobachtungsdaten eng. Als Geoforscher schauen wir uns deswegen geologische Archive an: Wir nehmen Bohrkerne aus Seesedimenten, aus dem Meeresboden oder aus den Eischilden und analysieren sie. So lassen sich unter anderem Informationen zur Temperatur und Eisbedeckung über viele Jahrtausende hinweg feststellen. Das sind dann valide Vergleichsdaten.
Wie schätzen Sie den aktuellen Befund angesichts dieser Daten ein?
Als sehr außergewöhnlich. Das kann man für alle Bereiche sagen. Was wir beim Meereis oder Gletscherabfluss sehen, hat es seit sehr langer Zeit nicht mehr gegeben. Dabei geht es um Zehntausende von Jahren. Auch im frühen Holozän – unserer gegenwärtigen Warmzeit – gab es bereits eine relativ warme Phase, etwa vor 9000 bis 7000 Jahren. Aber das hat sich nicht so rapide abgespielt wie heute.
Sie haben in der vergangenen Woche rund 100 Polarforscher aus 16 Ländern zu einer Konferenz nach Potsdam geholt. Welche Rolle hat dabei noch die Frage gespielt, ob die aktuelle Erwärmung von Menschen verursacht wird?
Keine mehr. Das ist in unserem Forschungsfeld mittlerweile weitgehend Konsens. Wir erkennen ganz klar, dass es hier einen anthropogenen Beitrag gibt. Das „ob“ wird nicht mehr diskutiert, sondern wir konzentrieren uns auf die Untersuchung von Folgeerscheinungen und wie diese ihrerseits zu weiteren Rückkopplungen mit Klima und Umwelt führen.
Sie haben herausgefunden, dass die Prozesse in der Arktis sogar schneller ablaufen als erwartet.
In der Tat: Beim Abnehmen des Meereises zum Beispiel hinken die Modelle den Beobachtungen hinterher. Die Kurven driften auseinander, die Modelle haben offenbar einige Prozesse nicht mit einberechnet, die die Vorgänge aktuell beschleunigen. Das ist auch bei den Eisschilden so. Die Ursachen der Beschleunigung verstehen wir jetzt erst Stück für Stück. Etwa, dass Wasser, das oben schmilzt, bis an die Basis der Eisschilde durchsickern kann – wodurch das Abrutschen des Eises an den Rändern beschleunigt wird. Das ist ein Prozess, der vorher unbekannt war und daher nicht in die Modellrechnungen eingeflossen ist. Beim Permafrost ist es ähnlich. Dazu gab es gerade sehr interessante Beobachtung in Sibirien und Alaska.
Erzählen Sie!
Wissenschaftler haben dort zum Ende des Winters im März/April gebohrt und erwartet, dass der Boden komplett durchgefroren ist. Das sollte er bei minus 40 Grad auch noch sein. Dann trat bei der Bohrung überraschenderweise ungefrorenes Material zutage. Das war sehr verwunderlich. Offenbar hängt es damit zusammen, dass die Schneedecke in den vergangenen Jahren dort höher wurde. Die dickere Schneedecke an sich ist schon ein Zeichen der Erwärmung: Wegen der geringeren Meereisbedeckung gelangt mehr Feuchte in die arktische Atmosphäre, was zu mehr Schnee im frühen Winter führt. Je mehr Schnee, desto besser ist der Boden vor den kalten Temperaturen geschützt. So konnte der kalte Frost nicht mehr so tief dringen, der Boden ist nicht mehr komplett durchgefroren. Diesen Prozess, der wiederum das Auftauen beschleunigt, hatte zuvor niemand so weit im Norden in der Arktis erwartet.
Auch das ein Rückkopplungseffekt also?
Genau. Wir sehen, dass sich die Natur schneller wandelt, als wir erwarten. Diese Prozesse müssen nun erst in die Modelle eingebaut werden. Wir hinken der Entwicklung an vielen Stellen also hinterher.
Was hat es mit den arktischen Seen auf sich, die Sie untersuchen?
Diese Seen tauen in den Permafrost sozusagen hinein. Sie schmelzen das Eis im eigentlich dauerhaft gefrorenen Boden auf und dieser verliert seinen Zusammenhalt. Dadurch werden die Seen auch größer. Im Permafrost steckt viel organischer Kohlenstoff, der sich zum Teil über zehntausende von Jahren dort angesammelt hat. Er wurde wie in einer Tiefkühltruhe konserviert. Die Seen tauen das nun schneller auf als erwartet, unter den Seen sogar bis zu 15 Meter tief. Der Vorgang findet recht abrupt statt – über riesige Regionen hinweg.
Dabei wird Methan – ein noch stärkeres Treibhaus Gas als Kohlendioxid – freigesetzt. Kommt das Gas aus dem gefrorenen Untergrund?
Nicht direkt. Das Methan entsteht erst in den Seen, indem die organischen Pflanzen und Tierreste nach dem Auftauen von Mikroorganismen zersetzt werden.
Sind die Mengen dieses Methans für das Klima relevant?
Durchaus, es geht um erhebliche Mengen. Wichtig dabei ist aber zu sehen, dass die Emissionen, die der Mensch durch die Nutzung fossiler Brennstoffe freisetzt, um ein Vielfaches größer sind, als das, was aus natürlichen Prozessen entsteht. Die Entschuldigung, dass die Natur auch Treibhausgas produziert, läuft somit ins Leere. Zumal diese Prozesse erst durch den anthropogenen Klimawandel angestoßen oder verstärkt wurden.
Die Arktis ist weit weg. Warum sollten uns in Mitteleuropa die Vorgänge dort überhaupt Sorgen machen?
Zum einen, weil der Kohlenstoff aus dem Permafrost in die Atmosphäre aufsteigt und dort den globalen Treibhauseffekt verstärkt. Zum anderen weil durch das Auftauen des Meereises Luft- und Ozeanströmungen verändert werden. Das sollte uns gerade in Mitteleuropa interessieren, da unser Klima stark vom Golfstrom geprägt wird. Der sehr ungewöhnliche Sommer 2018 in Deutschland mit extremer Trockenheit und überdurchschnittlicher Wärme seit April hängt offenbar mit Veränderungen des Jetstreams, einer atmosphärische Luftströmung in großer Höhe zusammen. Dies wiederum geht auf das schmelzende Meereis zurück. Der Eintrag von Schmelzwasser aus Grönland wird ebenfalls größer. Und dieses Süßwasser verändert den Salzgehalt des Ozeanwassers, der wiederum einen Einfluss auf die Dynamik der Meeresströmungen – und damit auch auf Luftzirkulationen – hat, die sich nun verändern. Während es bei uns in diesem Sommer erheblich wärmer war, gab es andere Regionen, die kühler als gewöhnlich waren – es entstehen also Verschiebungen. Hinzu kommen die langen Phasen, in denen die Hochdruckgebiete sich stabil über Europa halten konnten, was die extremen Wetterereignisse begünstigte.
Gab es auf der Tagung ein Ergebnis, das Sie überrascht hat?
Besonders beeindruckt hat mich die Situation beim Meereis. Mit jeder neuen Untersuchung wird festgestellt, dass die Eisschicht stärker zurückgeht. Die Modellierungen kommen kaum noch hinterher. Es gab jahrelang die Diskussion, dass in einer Region mit mehrjährigem sehr dicken Meereis nördlich von Grönland Refugien für die vom Eisrückgang bedrohten Eisbären einzurichten. Das ist nun mit einem Schlag vom Tisch: Sogar in dieser Region wurde die Küste im August komplett eisfrei. Dort strömt nun warmes Atlantikwasser hinein. Das ist dramatisch.
Also ein eher pessimistischer Befund?
Nein, wir können noch reagieren. Es muss mit Nachdruck Klimaschutz beitrieben werden. Die Wissenschaft muss der Politik klarmachen, was auf uns zukommt. Und zwar auch hier bei uns in Deutschland und bereits zu unseren Lebzeiten. Was wir aktuell erleben, ist erst der Anfang. Die Entscheidung, etwas zu tun, liegt jetzt aber bei der Politik, welche den Auftrag hat, für das Wohl der Gesellschaft zu sorgen. Eine große Aufgabe von uns Wissenschaftlern ist, der auf sehr kurzen Zeithorizonten arbeitenden Politik die große Bedeutung der sich ändernden Klimabedingungen für das Gemeinwohl nahezubringen.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Guido Grosse (42) ist Professor für Permafrost im Erdsystem an der Uni Potsdam und Leiter der Sektion Permafrostforschung am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Potsdam.
Die Konferenz „Polar Regions in Transformation - Climate Change and Anthropogenic Pressures“ fand vom 10. bis 15 Spetember in Potsdam statt. Schwerpunkt war das Thema polare Fernerkundung, dabei ging es um Eisschilde, Gletscher, Meereis, Permafrost, Atmosphäre, Schnee, Vegetation, Seen, Küsten und Beobachtungsnetzwerke. Ausgerichte wurde die Konferenz vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Eine aktuelle Studie des AWI kommt nun zu dem Ergebnis, dass der arktische Ozean in diesem Jahr überdurchschnittlich viel Meereis verliert. Die Ausdehnung des arktischen Meereises schrumpft demnach aktuell auf ein Jahresminimum von 4,4 Millionen Quadratkilometer, dem sechstkleinsten Wert seit Beginn der Messungen im Jahr 1979. Die verbleibende eisbedeckte Fläche wird rund 300 000 Quadratkilometer kleiner ausfallen als im vergangenen Jahr, als die Eisdecke auf 4,7 Millionen Quadratkilometer schrumpfte.
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