Brinkhaus gewinnt gegen Kauder: Ziviler Ungehorsam in der Unionsfraktion
Die Unions-Abgeordneten wählen statt Volker Kauder Ralph Brinkhaus und stellen Merkel und Seehofer bloß. Kanzlerin und Regierung erwarten unsichere Zeiten.
Angela Merkel steht im Foyer vor der Unionsfraktion vor der Wand – ganz allein. Der Alte ist nicht mitgekommen, den Neuen hat sie nicht dazu gebeten, Horst Seehofer ist schon weg. Dabei wäre der normale Vorgang, dass die zwei Parteivorsitzenden den frisch gewählten Fraktionschef der Öffentlichkeit präsentieren. Aber nichts ist normal am Dienstag Nachmittag. „Das ist eine Stunde der Demokratie“, sagt Merkel. „In der gibt es auch Niederlagen, und da gibt es auch nichts zu beschönigen.“
Das stimmt und ist doch nur ein schwaches Echo auf die Detonation, die die Kanzlerin gerade erlebt hat. Volker Kauder hat die Wiederwahl zum Fraktionsvorsitzenden verloren; ein freundlich-entschlossener Nobody ist neuer Chef der größten Regierungsfraktion. 125 Abgeordnete von CDU und CSU haben Ralph Brinkhaus ihre Stimme gegeben – ein Finanzexperte aus Westfalen, ein Kandidat ohne Bataillone. 112 Stimmen sind für Kauder übrig geblieben – Fraktionschef seit 13 Jahren, der Kandidat der CDU-Vorsitzenden und des CSU-Vorsitzenden.
Niemand hat damit gerechnet
Die Fürsprache hat nichts genutzt. Womöglich hat sie sogar geschadet. Etwas geht mit einem Schlag zu Ende, und keiner kann sagen, wo das aufhört.
Hinterher sind alle schlau, aber tatsächlich hat niemand mit diesem Ausgang gerechnet. Sicher, Merkel hat sich Sorgen gemacht. Sicher, Kauder ist vor Beginn der Sitzung auf dem Podium des Fraktionsvorstands hin- und hergetigert, hat heftig mit den Füßen gewippt und etwas gequält mitgelacht, wenn jemand einen Scherz machte. Der Gegenkandidat stand derweil erst irgendwo in einem kleinen Kreis von Kollegen weit hinten im Fraktionssaal und nahm dann bescheiden rechts außen auf der Vorstandsbank auf seinem Vize-Stuhl Platz, von Kameras und Mikrofonen unbeachtet.
Bei den Sachsen herrscht Revolutionslaune
Seit sich der 50jährige aus Rheda-Wiedenbrück vor Wochen selbst ins Spiel brachte und mit einer Mischung aus Naivität und Selbstbewusstsein die Kanzlerin um Unterstützung bat – vergebens natürlich –, hat keiner diese Kandidatur so richtig ernst genommen. Nicht mal sein eigener Landesverband stützte ihn. Erst kurz vor der Wahl, erst am Montag und Dienstag zeichnet sich hier und da Bewegungen pro Brinkhaus ab – in der Sitzung des Parlamentskreises Mittelstand sprechen sich viele für den Finanzfachmann aus, bei den Sachsen herrscht Revolutionslaune.
Um 15 Uhr läutet Kauder die Glocke. Die Sitzung beginnt geschäftsmäßig, der Fraktionschef stellt wie üblich die Themen der Parlamentswoche vor, kurze Aussprache, dann erst die Wahl. Merkel wirbt noch einmal für ihren ältesten Weggefährten; Seehofer unterstützt ihn: Er sei mit Kauder nicht immer einer Meinung gewesen, auf dessen Wort sei aber immer Verlass. „Stabilität“ ist der Begriff, den beide für ihren Favoriten ins Feld führen. Auch Kauder selbst stellt sich als Garanten für Verlässlichkeit vor. Von Brinkhaus’ Bewerbungsrede bleibt vielen ein anderes Zentralwort in Erinnerung: „Zuversicht“.
Der Applaus ist nicht tosend, eher zögerlich
Als der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt als Wahlleiter um kurz vor 16 Uhr das Ergebnis verliest, erstarren oben auf dem Podium Gesichter. Die Fraktion applaudiert, nicht tosend, eher zögerlich. Kauder, Merkel, Seehofer gratulieren dem Sieger, Brinkhaus dankt. Der Chef-Haushälter Eckardt Rehberg findet als erster die Fassung wieder und beantragt Sitzungsunterbrechung. Der Fraktionsvorstand tagt. Man beschließt, mit den Vorstandswahlen erst mal weiter zu machen, woraus aber nichts wird, weil es keinerlei Plan B gab und also keinen ausgehandelten Nachfolger für Brinkhaus’ Finanzposten. Die Baden-Württemberger melden gleich Ansprüche an als Kompensation für den Badener Kauder. So viel Zeit fürs Geschäftle muss sein.
Zwischen ihn und Merkel passe "kein Blatt Papier"
Dobrindt geht zwischendurch mit Brinkhaus vor die Mikrofone. Auch der CSU-Landesgruppenchef hatte für Kauder geworben. Jetzt hat er die Arme vor der Brust verschränkt, verkündet das Ergebnis und gratuliert dem künftigen Partner zum „herausfordernden Amt“. Brinkhaus sagt, dass er sich riesig freue und dass man jetzt gleich schnell wieder an die Arbeit gehen müsse, weil das die Menschen erwarteten. Später wird er versichern, dass zwischen ihn und Merkel „kein Blatt Papier“ in der Zusammenarbeit passen werde und dass seine Wahl keine Absage an die Kanzlerin sei: „Eins ist klar“, sagt Brinkhaus, „die Fraktion steht ganz fest hinter Merkel.“
Erstaunlich, ich dachte die Gegenkandidatur wäre schon der Warnschuss gewesen, jetzt wurde das wirklich durchgezogen. Und natürlich ist das Demokratie und auch das ist erstaunlich, dass es gefühlt so erstaunlich ist, dass so etwas passieren kann.
schreibt NutzerIn tizian2011
Das steht sie aber eben nicht, die Fraktion. Draußen vor dem Saal versuchen Abgeordnete den Vorgang zu fassen. Kauder habe eine anständige Rede gehalten und Brinkhaus eine gute, hört man oft. „Wachablösungen gibt es überall“, sagt der CDU-Innenexperte Armin Schuster. Die helfe in der jetzigen instabilen Phase der Koalition zwar sicher nicht, andererseits: „Für so was ist nie ein guter Zeitpunkt, aber man muss es tun.“ Der CSU-Mann Hans Michelbach sagt: „Es war einfach eine Mehrheit dafür, einen neuen Aufbruch zu wagen.“ Ein Misstrauensvotum gegen Merkel? „Wir haben keine Kanzlerwahl!“
Das Weiter so ist die Fraktion leid
Aber natürlich ist es ein Desaster, ein Missfallensvotum, ein Vertrauensentzug. Er richtet sich gegen Kauder, also gegen Merkel, auch gegen Seehofer. Man muss nur den CSU-Chef hören, wie er sich Richtung Fahrstuhl schiebt und erklärt, dass man das Ergebnis jetzt respektieren müsse. Was es denn bedeute, dass die Fraktion Merkel und ihm nicht mehr folge fragt jemand. „Ja, wir haben ihn vorgeschlagen“, sagt Seehofer. Über die weitere Bewertung müsse er nachdenken. „Ich fahr’ jetzt ins Ministerium.“
Dabei erscheint die weitere Bewertung erschreckend einfach. Kauder war das Weiter so in Person, und das Weiter so ist die Fraktion leid. Da kam ein Brinkhaus gerade recht – programmatisch nicht besonders scharf konturiert, keiner aus der Reihe der ehrgeizigen Merkel-Gegner, aber frischer als der 69jährige Altbauer Kauder und jedenfalls irgendwie anders. Dass die Fraktion jemanden gewählt habe, ohne dass der vorher jedem ein Amt versprochen habe, das stimme sie froh, sagt eine junge Abgeordnete.
Das erklärt die Stimmen für Brinkhaus. Die Stimmen gegen Kauder erklären sich von selbst. Nach dem Flüchtlingschaos vor der Sommerpause und der Affäre Maaßen musste das Argument der „Stabilität“ für den amtierenden Vorsitzenden ausgerechnet aus dem Mund Merkels und Seehofers wie Satire klingen. „Da hätte man früher anfangen müssen mit Regieren“, ätzt ein Abgeordneter, der sich wie alle seine Kollegen in den letzten Tagen in den Wahlkreisen einiges anhören musste über den Berliner Dilettantenstadl seiner Chefs.
Kauder war der Kanzlerin treuer Wegbegleiter
Jetzt dürfe sich niemand über die Quittung beschweren, sagt der Mann. Über die Folgen allerdings auch nicht. Jeder, der Kauder die Stimme verweigert hat, muss sie klar vor Augen gehabt haben; spätestens, als Merkel in ihrem Plädoyer für den treuen Wegbegleiter fast schon um Gnade bat. „Ich brauche Volker Kauder“, hat die CDU-Chefin ihre Fraktion beschworen. Den Kauder, der ihr einst als Generalsekretär der Südwest-CDU die Botschaft überbracht hatte, dass sie als Parteichefin bleiben dürfe, wenn sie auf die Kanzlerkandidatur verzichte; den Kauder, der dann trotzdem ihr Generalsekretär wurde und ihr Fraktionschef von Anfang an.
Im Dezember steht die Wahl zum Parteivorsitz an
Kauder war die Säule für Merkels Kanzlerschaft. Jetzt ist sie weg, gebrochen von den eigenen Leuten. Merkel ist nicht der Typ, darüber zu resignieren; sie wird sich mit dem Neuen arrangieren. „Ich hab’ ihm natürlich gratuliert und ihm auch die Zusammenarbeit angeboten“, sagt die Kanzlerin. Aber Brinkhaus wird schon im eigenen Interesse das Versprechen auf Eigenständigkeit einlösen müssen, dass er seinen Wählern gegeben hat.
Merkel aber weiß jetzt, dass es nichts werden wird mit einem selbstbestimmten, einem geordneten Wachwechsel. Im Dezember muss sie sich selbst stellen; beim Parteitag in diesem Jahr steht die Wahl zum Parteivorsitz an. Dass da niemand gegen sie aufsteht, ist jetzt nicht mehr sicher. Denn für alle, die auf ihr Erbe spekulieren, hält Kauders Sturz ja auch eine kleine Lehre bereit: Wer zu spät aufzeigt, dem kommt womöglich irgend ein Brinkhaus dazwischen.
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