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Rechte Demonstranten auf einer Demo in Duisburg (Archivbild).
© Caroline Seidel/dpa

Jahresbericht des Verfassungsschutzes: Zahl der Rechtsextremisten erreicht neuen Höchststand

Horst Seehofer stellt den Jahresbericht des Verfassungsschutzes vor. Rechtsextremisten und Reichsbürger sind besonders gefährlich für die innere Sicherheit.

Chemnitz war das Fanal. Die massiven rassistischen Proteste Spätsommer 2018 in der sächsischen Stadt nach dem Tod eines Deutschkubaners, der mutmaßlich von zwei Asylbewerbern erstochen wurde, sind für den Verfassungsschutz ein deutliches Warnzeichen. Die  rechtsextreme Szene konnte mit der Anti-Asyl-Agitation in kurzer Zeit in Chemnitz und anderen Städten zahlreiche Anhänger und Normalbürger über die sozialen Netzwerke für Demonstrationen mobilisieren.

Einzelne Rechtsextremisten aus der Region Chemnitz radikalisierten sich zudem in nicht einmal drei Wochen in Richtung Terrorismus. Die Gruppierung „Revolution Chemnitz“ plante Anschläge mit Schusswaffen am 3. Oktober 2018 in Berlin, um den Kampf zur Abschaffung der demokratischen Grundordnung einzuläuten. Die Bundesanwaltschaft hat jetzt, wie berichtet, gegen acht Tatverdächtige Anklage wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung erhoben

Wucht des Fanals

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schildert nun in seinem Jahresbericht 2018 die Wucht des Fanals und illustriert sie schon mit einer Zahl: an rechtsextremistischen Kundgebungen und Demonstrationen nahmen 57.950 Personen teil. Das ist eine gewaltige Steigerung gegenüber 2017 (16.400 Teilnehmer insgesamt), obwohl es 2018 keine vergleichbare Zunahme in der Summe rechter Demonstrationen gab (2018: 233, 2017: 202).
„Ursächlich sind die Kundgebungen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chemnitz, die oft vierstellige Teilnehmerzahlen aufwiesen“, schreibt das BfV im Jahresbericht. Den mehr als 380 Seiten umfassenden Report hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Donnerstag gemeinsam mit BfV-Präsident Thomas Haldenwang in Berlin vorgestellt. Insbesondere wegen der "hohen Waffenaffinität" der Szene seien die Zahlen „besorgniserregend“, sagte Seehofer. In diesem Bereich bestehe eine „hohe Gefährdungslage“.

Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang.
Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang.
© imago/Reiner Zensen
  • Die rechtsextreme Szene in Deutschland wuchs 2018 nur marginal um 100 Personen auf 24.100 - erreicht damit aber einen neuen Höchststand. Mehr als die Hälfte, insgesamt 12.700 Rechtsextremisten, gelten wie schon 2017 als gewaltorientiert. Damit verfestigt sich das militante Potenzial. Die Polizei registrierte denn auch einen leichten Zuwachs rechter Gewalttaten (2018: 1156 Delikte, 2017: 1130), obwohl die Summe aller rechten Straftaten etwas abnahm (2018: 20.431, 2017: 20.520).
  • Die Attraktivität rechtsextremer Parteien bleibt schwach. Die NPD sackte auf 4000 Mitglieder ab (2017: 4500), die aggressive Neonazi-Partei „Die Rechte“ hat nur noch 600 Mitglieder (2017: 650) und die ähnlich gestrickte Partei „Der III. Weg“ konnte nur spärlich zulegen (2018: 530 Mitglieder, 2017: 500).
  • Jenseits der Parteien fällt auf, dass die flüchtlingsfeindliche und vergleichsweise modern auftretende Identitäre Bewegung um 100 Mitglieder auf 600 wuchs. Ein großer Teil der rechten Szene bewegt sich in solchen parteiunabhängigen Strukturen oder ist sogar nur in losen Verbünden unterwegs. Das BfV zählt diesem heterogenen Spektrum knapp 20.000 Personen zu, das sind einige hundert mehr als im Jahr 2017.
  • Gefährlich bleibt auch die Szene der Reichsbürger, die sich nach Erkenntnissen des BfV zu einem kleinen Teil mit dem Milieu der Rechtsextremisten überschneidet. Reichsbürger sprechen der Bundesrepublik das Existenzrecht ab, ein Teil der Szene erklärt zudem als „Selbstverwalter“ das eigene  Grundstück zum Ministaat. Das BfV stuft die Szene als staatsfeindlich ein und berichtet von weiterhin steigenden Zahlen (2018: 19.000 Anhänger, 2017: 16.500).Die Zunahme führt das Bundesamt allerdings weitgehend auf ein verbessertes „Informationsaufkommen“ des Verbundes der Verfassungsschutzbehörden zurück. Die Szene gilt weiterhin als besonders „waffenaffin“, Ende 2018 hatten noch 910 Reichsbürger waffenrechtliche Erlaubnisse. Das BfV spricht allerdings auch von 570 „Erlaubnisentzügen“ seit Beginn der bundesweiten Beobachtung des Spektrums durch den Verfassungsschutz Ende 2016. Der Nachrichtendienst macht regelmäßig Behörden, die für die Erteilung von waffenrechtlichen Erlaubnissen zuständig sind, auf Reichsbürger aufmerksam.
Ein Reisepass der selbsternannten Reichsbürger.
Ein Reisepass der selbsternannten Reichsbürger.
© Patrick Seeger/dpa
  • Die Szene bleibt allerdings zumindest latent kriminell. Reichsbürger verübten 2018 insgesamt 864 politisch motivierte Straftaten, darunter 160 Gewalttaten (2017: 911 Straftaten insgesamt mit 130 Gewaltdelikten). Im Februar 2018 entdeckte die Polizei in Münster (Nordrhein-Westfalen) bei einem Reichsbürger 93 Waffen und 200 Kilogramm Munition.Im Mai 2018 stellte die Polizei in Sondershausen (Thüringen) 50 Schusswaffen und eine größere Munition sicher. Außerdem ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen Reichsbürger wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Die Beschuldigten sollen geplant haben, die demokratische Grundordnung zu beseitigen und das deutsche Kaiserreich wiederzubeleben. Gegner sollten getötet werden.

Rückgang linker Straftaten

  • Die linksextreme Szene fiel 2018 weniger auf als im Jahr zuvor. Im Juli 2017 hatten Autonome aus dem In- und Ausland beim G-20-Gipfel in Hamburg heftig randaliert. Das BfV warnt allerdings im Jahresbericht, die Proteste im Hambacher Forst (Rheinland) gegen das Vordringen des nahen Braunkohlereviers hätten sich unter dem Einfluss der Gruppierung „Interventionistische Linke (IL)“ radikalisiert. Die IL war auch 2017 in Hamburg bei den teilweise gewaltsamen Demonstrationen gegen den G-20-Gipfel präsent.
  • Die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten blieb 2018 konstant (9000 Personen, darunter 7400 Autonome). Die Szene insgesamt wuchs auf 32.000 Personen (2017: 29.500). Ein Faktor ist der ungebrochene Zulauf für den Verein „Rote Hilfe“, der Linksextremisten bei Strafverfahren unterstützt (2018: 9200 Mitglieder, 2017: 8300).
Polizisten tragen eine Aktivistin aus dem Hambacher Forst.
Polizisten tragen eine Aktivistin aus dem Hambacher Forst.
© Wolfgang Rattay/REUTERS
  • Bei den linken Straftaten gab es einen deutlichen Rückgang (2018: 7961 Delikte, 2017: 9752). Das betrifft auch die in der Summe enthaltenen Gewalttaten (2018: 1340, 2017: 1967). 
  • Bei den Islamisten hält das BfV vor allem die salafistische Szene weiterhin für enorm gefährlich. Ein Teil der Salafisten sympathisiert mit dschihadistischen Organisationen wie der Terrormiliz „Islamischer Staat“ und Al Qaida. Angesichts der schweren Niederlagen des IS in Syrien und Irak beobachtet der Verfassungsschutz, dass die Salafistenszene und vor allem die Dschihadisten zwischen Orientierungslosigkeit und dem Beharren auf der eigenen Ideologie schwanken. Das Salafistenmilieu wuchs auch nicht mehr so rasant wie früher (2018: 11.300 Personen, 2017: 10.800, 2016: 9700).   
  • Zulegen konnte auch das Spektrum der libanesisch-schiitischen Terrororganisation Hisbollah in Deutschland (2018: 1050 Anhänger, 2017: 950). Die palästinensische Terrorvereinigung Hamas blieb mit 320 Anhängern konstant. Das gilt auch für die mit der Hamas verbundene Muslimbruderschaft (1040 Personen) und die türkische Bewegung Milli Görüs (10.000 Anhänger).Das BfV nahm zudem 2018 erstmals die türkisch islamistische „Furkan Gemeinschaft“ als Beobachtungsobjekt ins Visier. Die in Deutschland 290 Anhänger zählende Vereinigung sieht den Westen als Ursprung allen Übels und spricht Israel das Existenzrecht ab.Bei der „Politisch motivierten Kriminalität – religiöse Ideologie“ stellte die Polizei 2018 insgesamt 453 Delikte fest (2017: 907). Die meisten Straftaten hatten einen islamistischen Hintergrund. 

Antisemitische Aktivitäten

  • Bei den ausländischen Extremisten jenseits des islamistischen Spektrums bleibt die kurdische Terrororganisation PKK die größte Vereinigung mit unverändert 14.500 Mitgliedern in Deutschland. Auch beim Hauptgegner der PKK, der türkisch rechtsextremistischen Ülkücü-Bewegung, auch bekannt als „Graue Wölfe“, blieb das Personenpotenzial stabil (11.000 Anhänger).Im Bereich der „Politisch motivierten Kriminalität – ausländische Ideologie“ registrierte die Polizei 2018 einen deutlichen Anstieg (2487 Straftaten, im Vorjahr 1617). Wesentlicher Grund sind die zum teil gewaltsamen Proteste von Anhängern der PKK gegen den Angriff türkischer Truppen auf die kurdische Enklave Afrin im Norden Syriens.
Kurden schwenken auf einer Kundgebung in Köln Fahnen mit dem Konterfei des PKK-Gründers Öcalan (Archivbild).
Kurden schwenken auf einer Kundgebung in Köln Fahnen mit dem Konterfei des PKK-Gründers Öcalan (Archivbild).
© Oliver Berg /dpa
  • In nahezu allen extremistischen Spektren stellte der Verfassungsschutz antisemitische Aktivitäten fest. Das betrifft vor allem deutsche und türkische Rechtsextremisten, Reichsbürger, Linksextremisten und Islamisten. Die Polizei registrierte  einen Anstieg antisemitischer Straftaten um fast 20 Prozent (2018: 1799 Delikte, 2017: 1504).
  • Bei der Spionage gegen Deutschland hält das BfV Russland, China, Iran und die Türkei für die gefährlichsten Akteure. Gewarnt wird zudem vor Cyberattacken vor allem russischer und chinesischer Geheimdienste. Russische Angriffskampagnen richten sich gegen Regierungsstellen, Streitkräfte, supranationale Organisationen, Parlamente und Politiker, internationale Wirtschaftsunternehmen, sowie Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen. Zu China heißt es im Jahresbericht, die Qualität der Angriffe habe sich gesteigert. Die Kampagnen sind inzwischen auch schwerer zu entdecken.    Dem Iran bescheinigt das BfV neben Spionage auch einen „deutlichen Anstieg der Anhaltspunkte“ für Versuche, Material für das Raketenprogramm zu beschaffen. Das Bundesamt hält die Aktivitäten für „proliferationsrelevant“, die Raketen sind als Träger für Massenvernichtungswaffen vorgesehen. Andererseits sah der Verfassungsschutz 2018 nur noch vereinzelt Indizien für Versuche des Mullah-Regimes, in Deutschland an Technologie für das iranische Nuklearprogramm heranzukommen.

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