Gewalt durch Rechtsextreme: Die Dimension wird immer noch völlig unterschätzt
Mit dem Geständnis von Stephan E. mag der Fall Lübcke geklärt sein. Doch das Ausmaß tödlicher rechter Gewalt wird nur ungenügend wahrgenommen. Ein Kommentar.
Der Täter gesteht den Mord, der Bundesinnenminister ist erleichtert. Das Attentat auf Walter Lübcke scheint mit der Aussage von Stephan E. nun im Kern geklärt zu sein, auch wenn die Frage nach einem oder mehreren Komplizen offen bleibt.
Doch Grund zur Erleichterung hat Horst Seehofer nicht. Die Sicherheitsbehörden sind bei der Bekämpfung des rechtsextremen Terrors nicht so fit, wie sie in den knapp acht Jahren nach dem Ende des NSU hätten werden können. Werden müssen. Auch wenn sich bei Polizei, Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft viel getan hat. Es war offenbar unzureichend.
Schon die Unstimmigkeiten bei Zahlen der Behörden zu besonders gefährlichen Rechtsextremisten stärkt den Verdacht auf blinde Flecken. Der Verfassungsschutz spricht von 12.700 „gewaltorientierten Rechtsextremisten“. Das Bundeskriminalamt hat gerade mal 150 Gefährder und Unterstützer im Blick. Ist also den meisten militanten Neonazis, Skinheads und rechten Hooligans kein Terror zuzutrauen, selbst wenn sie über Gewalt schwadronieren und auf der Straße auch zuschlagen? Werden sie kein Attentat mit einer Schusswaffe wie auf Walter Lübcke verüben, keinen Bombenanschlag wie der NSU in Köln oder der angebliche Einzeltäter Gundolf Köhler beim Oktoberfest in München?
170 Tote durch rechte Gewalt
Beunruhigend ist zudem schon seit Jahrzehnten, dass Politik und Sicherheitsbehörden meist die wahre Dimension tödlicher rechter Gewalt verdrängen. Die offizielle Zahl der Menschen, die seit der Wiedervereinigung von Rechtsextremisten erschlagen, verbrannt, erstochen, ertränkt und auf andere Weise ums Leben gebracht wurden, ist viel zu niedrig. Die Bundesregierung spricht von 85 Todesopfern rechter Gewalt, der Fall Lübcke ist noch nicht dabei.
Der Tagesspiegel kommt in seiner Langzeitrecherche auf 170 Tote, mit dem ermordeten Lübcke. In vielen Fällen ist zu erkennen, dass Polizisten, Staatsanwälte oder auch Richter das rechte Motiv eines Mörders oder Totschlägers ignorierten. Nur wenige Bundesländer haben bislang die Notwendigkeit erkannt, ihre Zahlen zu Todesopfern rechter Gewalt zu überprüfen und Korrekturen vorzunehmen. So bleibt das wahre Ausmaß der bundesweiten Bedrohung durch rechte Gewalt verborgen.
Wenn Seehofer jetzt sagt, bei Polizei und Verfassungsschutz müsse die Analysefähigkeit gestärkt werden, ist ihm auf jeden Fall zuzustimmen. Dazu müsste auch der Blick ins Internet geweitet werden. Doch es dürfte schwierig sein, möglichst rasch zusätzliche Fachleute zu finden, die sich bereits im Rechtsextremismus auskennen. Und die Ausbildung junger Beamter zu szenekundigen Experten dauert Jahre. Schnelle Erfolge im Kampf gegen gewalttätigen Rechtsextremismus kann Seehofer nicht versprechen.
Es wäre schon wertvoll, der Minister könnte bei Amtskollegen in den Ländern den politischen Willen stärken, sich endlich mit Defiziten in der Wahrnehmung tödlicher rechtsextremer Gewalt zu befassen. Schon damit hätte der Bundesinnenminister viel zu tun.