Nach dem Anschlag in Istanbul: Wohin treibt die Türkei?
Streit mit Russland, Kampf gegen den IS und Kurdenkonflikt – die Türkei, die einst als Stabilitätsfaktor der Region galt, erlebt nun Krise um Krise.
Ein Selbstmordanschlag in Istanbul, heftige Gefechte im Südosten des Landes – in der Türkei brennt es an allen Ecken und Enden. Und es sieht nicht danach aus, als ob das Land bald zur Ruhe kommen würde. Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger haben eine einfache Erklärung dafür. Feinde im Innern und Äußern wollten die Türkei schwächen, knechten, teilen, sagen sie. Nach dem Anschlag von Istanbul deutete Ministerpräsident Ahmet Davutoglu an, dass seine Regierung nicht nur den „Islamischen Staat“ (IS) für die Gewalttat verantwortlich macht, bei der zehn deutsche Touristen starben. Jemand habe den IS als „Subunternehmer“ benutzt, sagte Davutoglu. Eine regierungsnahe Zeitung nannte Russland, Syrien und den Iran als die eigentlichen Schuldigen.
Tatsächlich steht die Türkei einer ganzen Reihe von Problemen gegenüber. Zumindest teilweise trägt die politische Führung jedoch eine Mitverantwortung für die krisenhafte Anhäufung von Quellen der Destabilisierung, die das Land in den kommenden Monaten in noch schwerere Turbulenzen werfen dürften als bisher schon.
An erster Stelle steht der Krieg im Nachbarstaat Syrien. Erdogan und Davutoglu streben einen Sturz von Präsident Baschar al-Assad in Damaskus an und wollen aus Syrien einen möglichst von Sunniten regierten Staat machen. Um dieses Ziel zu erreichen, unterstützt Ankara die syrische Opposition politisch und auch militärisch: Vor einigen Tagen feuerten türkische Panzer von der Grenze aus, um Rebellen auf syrischer Seite den Vormarsch zu erleichtern.
Die Beziehungen zu Israel, Ägypten und dem Iran sind belastet
Assads politische Langlebigkeit, der Vormarsch des IS und das Engagement Russlands haben der Türkei jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Fast fünf Jahre nach Ausbruch der Unruhen gegen Assad sitzt der Präsident immer noch im Sattel, während die zerstrittene Opposition nicht weiterkommt. Gleichzeitig ist die lange Landgrenze zwischen der Türkei und Syrien zu einem Einfallstor für Flüchtlinge und IS-Extremisten geworden, deren Zustrom kaum zu kontrollieren ist. Die Integration von 2,2 Millionen syrischen Flüchtlingen hat noch nicht einmal begonnen.
Auch außerhalb Syriens hat die türkische Nahost-Politik zuletzt Schiffbruch erlitten. Die Beziehungen zum Irak, zum Iran, zu Israel und zu Ägypten sind gestört. Seit 2015 kommt die Dauerkrise mit Assad-Partner Russland wegen des Abschusses des russischen Kampfjets an der syrischen Grenze und wegen der grundsätzlichen türkisch-russischen Interessenskonflikte im Syrien-Krieg noch hinzu.
Als Ergebnis dieser Entwicklungen hat die Türkei am Anfang des Jahres 2016 nur noch wenige Möglichkeiten, auf die Entwicklung in Syrien einzuwirken. Dabei tut sich im Norden Syriens aus Sicht Ankaras eine weitere Bedrohungsquelle auf. Die syrische Kurdengruppe Partei der Demokratischen Union (PYD), ein Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), hat entlang der Grenze einen langen Gebietsstreifen erobert, in dem kurdische Autonomie herrscht. Im Kampf gegen den IS in der Gegend wird die PYD zum Entsetzen der Türkei von den USA unterstützt.
Der Friedensprozess mit den Kurden ist am Ende
Die Erfolge in Syrien haben die PKK dazu ermuntert, auch in der Türkei wieder offensiver zu werden. Noch vor einem Jahr gehörte der Friedensprozess mit den Kurden zu einer Grundposition Erdogans. Doch das dadurch ausgelöste Misstrauen türkischer Nationalisten und Stimmenverluste für die Erdogan-Partei AKP bei den Wahlen im Juni veranlassten den Präsidenten zu einer radikalen Kursänderung. Erdogan erklärte den Friedensprozess für vorerst gescheitert und ließ die Angriffe auf die PKK verstärken.
Da die Kurdenrebellen zu dieser Zeit ohnehin bereits wieder vermehrt zum bewaffneten Kampf gegen Ankara zurückkehrten, war im Herbst des vergangenen Jahres kein Faktor mehr vorhanden, der einen neuen Ausbruch des Kurdenkonflikts hätte verhindern können. Seit die PKK in Südostanatolien nach dem Vorbild der PYD in Syrien einseitig Autonomiegebiete ausruft und diese Gegenden gegen die türkischen Sicherheitskräfte verteidigt, ist der Krieg ins Kurdengebiet zurückgekehrt.
Die Armee riegelt ganze Wohnviertel und Kleinstädte ab, die PKK greift mit Autobomben an. Die meisten Kurden hatten in der Zeit des Friedensprozesses nach mehr als 30 Jahren Krieg und Zerstörung auf ein Leben ohne Gewehre und Bomben gehofft, doch sie werden jetzt von der PKK nicht groß gefragt, ob sie wirklich „befreit“ werden wollen. Selbst ein Land mit einem stabilen innenpolitischen Konsens hätte erhebliche Schwierigkeiten, mit diesem Blutvergießen fertig zu werden. Doch die Türkei ist nicht geeint, sie ist so tief gespalten wie nie zuvor.
Erdogan verteufelt alle Kritiker als Verräter und lässt unliebsame Journalisten einsperren. Die AKP konnte bei den Wahlen im November zwar fast 50 Prozent der Türken hinter sich bringen, doch verhalten sich Präsident und Regierung so, als seien sie lediglich die Vertreter dieser einen Hälfte der Wählerschaft, nicht des ganzen Landes. Justiz und Polizei verstehen sich inzwischen nicht mehr als Garanten der staatlichen Ordnung, sondern als Verteidiger der AKP-Regierung.
Tiefe Gräben verlaufen aber nicht nur zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern. Viele Türken – bei Weitem nicht nur jene in der AKP – misstrauen den Kurden, viele islamisch-konservative Türken lehnen die Lebensweise ihrer säkularistischen Mitbürger ab. Umgekehrt betrachten viele Laizisten in den Städten die frommen Anatolier wie Erdogan als ungebildetes Pack, das niemals an die Schalthebel der Macht hätte gelangen dürfen.
Es ist niemand da, der diese verschiedenen Gruppen einen könnte. Erdogan, dem als Präsident diese Rolle eigentlich zufallen würde, verhält sich ganz bewusst sehr parteiisch: Er will das parlamentarische System abschaffen und das bisher eher repräsentative Amt des Staatsoberhauptes zur zentralen politische Figur machen. Die Opposition ist so zerstritten, dass sie es selbst nach der Wahl im vergangenen Juni, als sie zahlenmäßig die Mehrheit im Parlament hatte, nicht vermochte, eine Regierung gegen die AKP zu bilden. Erdogan nutzte die Chance, setzte die Neuwahl im November an und ermöglichte seiner Partei so die Rückkehr zur Macht. Angesichts dieses Tableaus ist es kein Wunder, dass Beobachter wie der Kolumnist Semih Idiz meinen, dass die Dinge in der Türkei erst einmal noch viel schlimmer werden dürften, bevor eine Besserung eintritt.
Erdogan treibt Pläne für ein Präsidialsystem voran
Während der Syrien-Konflikt weiter brodelt, spekuliert die türkische Presse nach dem Istanbuler Anschlag über weitere Terrorteams des IS, die sich irgendwo im Land versteckt halten und auf den Befehl zum Losschlagen warten. Der Kurdenkonflikt eskaliert immer weiter, und auch die PKK droht mit einer Ausweitung des Kampfes auf Städte wie Istanbul oder Ankara. Unterdessen berichten einige Medien, Erdogan könnte schon in den kommenden Monaten eine erneute Parlamentswahl ansetzen, um sich die für seine Präsidial-Pläne nötigen Mehrheiten zu besorgen.
Die Einwirkungsmöglichkeiten des Auslands sind begrenzt. Zwar hat die EU ihr Verhältnis zur Türkei neu belebt, weil sie die Mithilfe Ankaras bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise braucht. Doch dass Erdogan und Davutoglu wegen entsprechender Forderungen aus Brüssel zu einem demokratisch-rechtsstaatlichen Reformkurs mit mehr Meinungsfreiheit und mehr Rechten für die Kurden und andere Minderheiten zurückkehren werden, ist sehr unwahrscheinlich. Schließlich wissen sie ganz genau, dass viele EU-Staaten nach wie vor gegen eine Aufnahme ihres Landes sind. Warum also sollten sie Kompromisse machen, die aus ihrer Sicht nur ihren Gegnern nutzen?
Nur eine außenpolitische Entwicklung könnte dazu beitragen, die tiefe Krise in der Türkei rasch zu beenden: eine Lösung des Syrien-Konfliktes mit einer Zerschlagung des IS und ohne kurdische Abspaltung. Doch davon ist die internationale Staatengemeinschaft nach wie vor weit entfernt.