Das viel zu alltägliche Grauen: Wo der Kampf gegen Kindesmissbrauch scheitert – und was sich ändern muss
Jeden Tag werden in Deutschland im Schnitt 43 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Viele von ihnen könnten besser geschützt werden. Wir erklären, wie das gelingen kann.
Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach – und jetzt Münster. Immer wieder erschüttern grausame Missbrauchsfälle die Republik. Über Jahre hinweg sollen in dem am Wochenende bekannt gewordenen Fall die mutmaßlichen Täter Kinder missbraucht und gefilmt haben. Schnell wurden Forderungen nach Strafverschärfungen für Kindesmissbrauch laut. Aber was wirklich helfen würde, lässt sich nicht in Paragrafen verpacken.
Wie groß ist das Ausmaß des Kindesmissbrauchs in Deutschland?
Berichterstattung über Missbrauch und Misshandlung von Kindern findet immer dann statt, wenn schwere Taten öffentlich werden. Das vermittelt den Eindruck, es handle sich um schlimme Einzelfälle.
Tatsächlich aber sind Missbrauch und Misshandlung für viele Tausend Kinder weltweit Alltag, auch in Deutschland. 2019 wurden laut Kriminalstatistik jeden Tag durchschnittlich 43 Kinder Opfer von sexueller Gewalt.
Im Bereich sogenannter Kinderpornografie stiegen die polizeilich bearbeiteten Fälle 2019 um 65 Prozent, auf etwa 12.260. Das Dunkelfeld ist enorm. Die Weltgesundheitsorganisation nimmt an, dass in Deutschland rund eine Million Mädchen und Jungen sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben.
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Welche Mängel hat die Ausbildung von Familienrichtern?
Eltern haben qua Verfassung das Recht und die Pflicht, für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen. Wo das nicht geschieht, muss der Staat sein Wächteramt wahrnehmen. Etwa 340.000 Kindschaftsverfahren pro Jahr werden entschieden, dabei geht es in rund 30 000 Fällen um die Gefährdung des Kindeswohls. Für Familienrichter gibt es keine obligatorische Fortbildung, sie ist rein freiwillig. So steht oft nicht das Kind im Zentrum des Verfahrens, sondern das Elternrecht. Fehlentscheidungen können traumatische Folgen für Kinder haben.
Im aktuellen „Fall Münster“ war schon 2015 und 2016 bekannt, dass einer der Täter, wegen Besitz und Vertrieb von „kinderpornografischem“ Material vorbestraft war. Doch das Familiengericht soll keinen Anlass erkannt haben, den Sohn seiner Partnerin in Obhut zu nehmen. So konnte der Mann das Kind missbrauchen.
Im „Fall Staufen“ gab ein Freiburger Gericht das Kind aus der Pflegschaft zurück an die mit einem vorbestraften Pädokriminellen liierte Mutter. Ihr Partner sollte lediglich „keine Freizeitaktivitäten“ mit dem Jungen unternehmen. Die Mutter und der Partner verkauften Sex mit dem Neunjährigen im Netz.
Experten wie der Mediziner Jörg Fegert und der Jurist Ludwig Salgo fordern verpflichtende Qualifizierungen von Familienrichtern, Gutachtern und Verfahrensbeiständen, also den Laienanwälten der Kinder bei Gericht. Unterstützt werden sie von Bettina Wiesmann (CDU), Mitglied der Kinderkommission des Bundestages, sowie von Politikern von SPD, Grünen und Linken. Doch die Durchsetzung wird im Bundestag blockiert. Eine Pflicht zur Fortbildung beeinträchtige die richterliche Unabhängigkeit, heißt es. Einzelne Bundesländer wie Baden-Württemberg planen jedoch Reformen.
Wie müssen sich Jugendämter ändern?
„Das war vor Kevin“, oder „das war nach Yagmur“: So markieren Jugendämter und Experten informell die Phasen im Kinderschutz: Mit Namen, die für Desaster stehen, für den Tod von Kindern, obwohl deren Familien amtlich betreut wurden. Der 2006 getötete Kevin stand sogar unter der Vormundschaft des Jugendamts.
Auch wo Kinder überleben – wie bei den Missbrauchsfällen von Staufen, Lügde oder Münster – waren zuvor oft Jugendämter eingeschaltet, ohne die Kinder zu schützen. Jugendämter arbeiten regional unterschiedlich, weshalb Experten das föderale Durcheinander kritisieren und bundesweit einheitliche Standards fordern, dazu mehr Personal und eine Fachaufsicht.
Jugendämter setzen zu sehr auf die „Kooperation“ der Erwachsenen in dysfunktionalen Familien. Wie die Gerichte hören sie zu selten die Kinder an. Oft haben Ämter Scheu, gegenüber Kindern einen Verdacht anzusprechen, erklärt der Psychologe Heinz Kindler vom Münchner Jugendinstitut. Nötig sind vertiefte psychologische Kenntnisse und effektivere Vernetzungen mit Kinderärzten, Gerichten, Kitas und Schulen. Kinderschutz muss vor Datenschutz gehen, Kindeswohl vor Elternrecht.
Was müssten Kitas und Schulen für mehr Aufklärung leisten?
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) mahnt: „In jeder Schulklasse sind ein bis zwei Kinder, die missbraucht werden.“ Nur wenige Lehrerinnen und Lehrerin jedoch wollen sehen oder wissen, was den Kindern angetan wird. Soll Prävention gestärkt werden muss sich das dringend ändern. An jeder Schule, in jeder Kita sollte es Norm werden, dass alle, die mit Kindern zu tun haben, Lehrer, Erzieher und der schulpsychologische Dienst, Grundkenntnisse zu Missbrauch und Misshandlung haben, Alarmzeichen deuten lernen und über Möglichkeiten der Intervention informiert sind.
Dasselbe gilt für alle Kinder und Jugendlichen in Kitas und an Schulen. Flächendeckende Aufklärung über Kinderrechte und das Unrecht von Misshandlung und Missbrauch muss jedem Kind altersgerecht vermittelt werden. Davor scheuen viele der Verantwortlichen zurück. Sie wollen Kindern keine Angst vor den Eltern einjagen und das Vertrauen in Erwachsene nicht generell erschüttern. Die Thematik ist hochsensitiv. Dass es verboten ist, Kinder zu schlagen, gehört inzwischen oft zum Lehrstoff. Nachgefragt und eingeschritten wird aber auch hier nicht konsequent. Noch größere Hemmung besteht beim Thema sexueller Missbrauch.
Während Sexualkunde anerkannter Schulstoff ist – und viele Minderjährige längst im Internet explizite Inhalte konsumieren – wird das Thema „Missbrauch in Familien“ an Schulen gemieden. Gerade hier muss allerdings klare Information für Minderjährige selbstverständlich werden, um gegen Einschüchterung und Angst zu wirken. Kinder sollten wissen: Welche Berührungen sind okay? Welche nicht? Was ist der Unterschied zwischen Sexualität und sexueller Gewalt? Wo kann ich Hilfe finden? Das Vertrauen in Erwachsene wird durch Klarheit nicht gestört, sondern gestärkt.
Wie fahnden die Ermittler?
Wenn Täter den Missbrauch gefilmt und hochgeladen haben, kommen ihnen die Ermittler oft im Netz auf die Spur. Sie versuchen Zutritt zu erlangen zu Kinderpornografie-Foren im Darknet. Bislang waren sie meist darauf angewiesen, dass ihnen ein entdeckter Täter in der Hoffnung auf Strafmilderung sein Passwort zur Verfügung stellte. Seit einer Gesetzesänderung im Januar können speziell geschulte Ermittler am Computer mithilfe von Künstlicher Intelligenz kinderpornografische Bilder generieren. Diese sollen täuschend echt aussehen und dann als Eintrittskarte dienen, um in die streng abgeschotteten Pädophilen-Zirkel hineinzukommen. Denn Zutritt bekommt häufig nur der, der selbst Kinderpornografie anbietet.
Einen großer Teil der Hinweise auf Fälle von Kinderpornografie bekommt das Bundeskriminalamt (BKA) aus den USA. Dort gibt es eine Pflicht für die Anbieter elektronischer Dienste, Kinderpornografie auf ihren Systemen zu melden – wenn sie davon etwas mitbekommen. Sie geben den Hinweis an eine vom US-Kongress eingerichtete gemeinnützige Organisation: das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC). Dieses arbeitet auch mit dem BKA zusammen, das wiederum die Hinweise an die Länder weiterleitet.
BKA-Präsident Holger Münch berichtete vor einigen Wochen etwa von dem Fall eines 17-jährigen Täters, der zuvor der Polizei nicht aufgefallen war. Er hatte den siebenjährigen Sohn seiner Schwester in deren Wohnung sexuell missbraucht und den Missbrauch live gestreamt, nachdem er dazu von einem Chatpartner aufgefordert worden war. Das NCMEC hatte dem BKA einen Hinweis gegeben. Anhand der IP-Adresse konnte der Täter ermittelt werden.
Münch beklagte aber, dass bei jedem zehnten der vom BKA bearbeiteten Fälle die mitgelieferte IP-Adresse nicht abfragbar war, weil die zugehörigen Nutzerdaten bei den Providern nicht mehr vorlagen. Diese würden oft die Regelungen zu den gesetzlichen Mindestspeicherfristen nicht umsetzen. Das liegt allerdings daran, dass die Regelung derzeit ausgesetzt ist. In diesem Jahr soll das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden, ob die deutsche Vorratsdatenspeicherung rechtmäßig ist.
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Braucht es Gesetzesänderungen oder mehr Befugnisse für die Ermittler?
Nachdem am Wochenende der Missbrauchsfall in Münster öffentlich wurde, verlangte die CDU schärfere Strafen. Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer will Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) zu einer entsprechenden Gesetzesänderung bewegen. Kramp-Karrenbauer verwies auf einen Beschluss der Innenministerkonferenz aus dem vergangenen Jahr, der bislang nicht umgesetzt wurde. Die CDU-Vorsitzende will auch die Vorratsdatenspeicherung forcieren.
Bei der SPD sind sie verärgert und irritiert über das Vorgehen von Kramp-Karrenbauer. Johannes Fechner, der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion sagte, es mache keinen Sinn, vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Vorratsdatenspeicherung gesetzgeberisch tätig zu werden. Was das Strafmaß betreffe, sei ein Prüfprozess bereits im Gang. Fechner sagte dem Tagesspiegel, Kramp-Karrenbauer versuche „anscheinend abzulenken von den Behördenversäumnissen im CDU-regierten NRW“. Dass die CDU-Vorsitzende mit solchen schrecklichen Fällen Parteipolitik betreiben wolle, sei „unwürdig“.
Fechner verwies darauf, dass die Möglichkeit für Ermittler, sich mit computergenerierter Kinderpornografie Zutritt zu entsprechenden Chats im Darknet zu verschaffen, laut Experten eine viel entscheidendere Maßnahme sei, als das Strafmaß zu erhöhen. Im vergangenen Jahr hätten sich Union und SPD auch auf ein Paket zur Stärkung des Rechtsstaates geeinigt. Unter anderem sollen 2000 zusätzliche Stellen für Richter und Staatsanwälte geschaffen werden. „Das muss jetzt in den Ländern umgesetzt werden“, sagte Fechner.
Auch Konstantin von Notz, der Vizefraktionschef der Grünen im Bundestag, kritisierte, die Union mache es sich zu leicht, wenn sie allein nach Strafrechtsverschärfungen rufe. „Denn keiner der Täter lässt sich von seinem schrecklichen Tun abbringen, weil ihm abstrakt eine längere Haftstrafe droht.“ Von Notz plädiert unter anderem für verbesserte Meldewege, eine effektivere Kooperation von Strafverfolgungsbehörden und Plattformen, den Einsatz neuester Bilderkennungssoftware und mehr gut geschultes Personal in der Justiz.
Der Grünen-Politiker hält auch wenig von der erneut laut gewordenen Forderung nach der Vorratsdatenspeicherung. „Statt die Strafverfolger tatsächlich effektiv bei ihrer teils extrem belastenden Arbeit zu unterstützen, verspricht man ihnen mit der Vorratsdatenspeicherung ein Ermittlungsinstrument, das mit geltendem deutschem und europäischen Recht unvereinbar ist.“
Sebastian Fiedler, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, lenkte im ARD Morgenmagazin vor allem das Augenmerk auf den Personalmangel bei den Ermittlern. Es werde Personal von einer Ecke in die andere verschoben. Oft fehlten die Auswerter, die bei größeren Ermittlungsverfahren wie dem aktuellen in Münster eingesetzt würden, dann an anderer Stelle.
Fiedler forderte zudem eine ähnliche Meldepflicht für Provider wie in den USA auch für Deutschland. Zum Teil könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Die große Koalition will noch vor der Sommerpause das Gesetz zur Bekämpfung von Hasskriminalität verabschieden. Es enthält laut Fechner die Neuregelung, dass die sozialen Netzwerke kinderpornografische Inhalte melden müssen.
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