Geberkonferenz der Vereinten Nationen: Wo Afghanistan nun am meisten Hilfe benötigt
Hunger, Dürre, Vertriebene: Millionen Menschen in Afghanistan leiden unter Armut und Gewalt. Der Bedarf an Hilfe ist immens. Die UN wollen Geld sammeln.
Sie haben eine fast bedrückende Tradition. Internationale Geberkonferenzen für Afghanistan hat es immer wieder gegeben, zum Beispiel im vergangenen November in Genf, als zirka zehn Milliarden Euro für ein Land zusammenkamen, das so sehr von internationaler Hilfe abhängig ist.
Wenn am Montag in Genf die nächste Geberkonferenz im Beisein von UN-Generalsekretär António Guterres beginnt, ist die Hilfe dringender denn je. Dürre, Hunger, Wirtschaftskrise, Hunderttausende Vertriebene – die Probleme sind vielschichtig. Die internationalen Organisationen wollen helfen. Doch durch das Chaos, das der Machtübernahme der islamistischen Taliban folgte, ist das Helfen noch schwieriger geworden. So wird Guterres wohl erneut den freien Zugang zu den Bedürftigen fordern – und eine Menge Geld. Ob die Zusagen dann tatsächlich eingehalten werden, ist eine ganz andere Frage.
Maas schließt über Nothilfe hinausgehendes Engagement in Afghanistan derzeit aus
Vor der UN-Sondersitzung hat Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) Unterstützung jenseits kurzfristiger Hilfen ausgeschlossen. "Ein über reine Nothilfe hinausgehendes Engagement in Afghanistan steht weiter nicht zur Debatte", erklärte er am Montag vor seinem Abflug nach Genf. "Allein das Handeln der Taliban wird darüber entscheiden, ob diese Linie in Zukunft angepasst werden kann."
Maas warnte wie bereits Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) vor einer weiteren Verschlechterung der Versorgungslage in dem Land. "Jahrzehnte des Konflikts und Dürren haben das Land schwer gebeutelt, die jüngsten Kämpfe und Umwälzungen verschärfen die Lage für die Menschen in dramatischer Art und Weise." Bereits jetzt seien knapp die Hälfte aller Afghaninnen und Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Der bevorstehende Winter droht, die Situation weiter zu verschlimmern", erklärte Maas.
Mehr als 18 Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe
Das wohl größte Problem für die Afghaninnen und Afghanen ist der Hunger. 14 Millionen Menschen sind von ihm betroffen – fast jeder Dritte im Land. Mehr als 18 Millionen benötigen Unterstützung. „In 27 von 34 Provinzen ist die Ernährungssituation bereits jetzt kritisch“, berichtet ein Sprecher des UN-Welternährungsprogramms dem Tagesspiegel. Das Bild, das er zeichnet, zeugt von einer prekären Situation im ganzen Land, sowohl in den Städten als auch in ländlichen Regionen. Die Not war schon vor dem Abzug des Westens groß. Durch die Unsicherheit nach der Machtübernahme habe sie sich jedoch noch vervielfacht.
Da sind etwa der zeitweise Kollaps des Bankensystems und die Abwertung der Landeswährung, die die ohnehin steigenden Lebensmittelpreise weiter in die Höhe treiben. Oder die Pandemie, die die Wirtschaft lahmlegt. Und eine Dürre, die schon vor dem Winter zu massiven Engpässen führt.
Hinzu kommt: „Ohne ausreichend Wasser aus der Schneeschmelze werden Bauern und Bäuerinnen weniger ernten können und Nahrungsmittel noch knapper. Dies wird zu weiteren Vertreibungen innerhalb Afghanistans führen“, berichtet die Hilfsorganisation Care. In Städten wie Kabul, Herat, Kandahar, Mazar und Jalalabad haben dem Welternährungsprogramm zufolge viele Binnenvertriebene Zuflucht gesucht. Sie haben ihre Lebensgrundlage verloren und hoffen, Arbeit zu finden, um ihre Familien zu ernähren. Ohne Geld und Ressourcen rutschen sie in Armut ab und benötigen humanitäre Hilfe.
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Das lässt auch den Bedarf der Organisationen steigen. Das UN-Nothilfebüro OCHA benötigt nach eigenen Angaben 606 Millionen Dollar für das Land bis Ende des Jahres. „Die Grundversorgung in Afghanistan bricht zusammen. Die Nahrungsmittelhilfe und andere lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige“, sagte Sprecher Jens Laerke in der vergangenen Woche.
3,5 Millionen Vertriebene innerhalb des Landes
„Es gibt einen enormen Bedarf an humanitärer Hilfe in Afghanistan“, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die Situation wird auch durch die vielen Schutzsuchenden verschärft. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) geht derzeit von mehr als 3,5 Millionen Vertriebenen innerhalb Afghanistans aus. Etwa 600.000 seien allein in diesem Jahr hinzugekommen. „80 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder. Das ist der eigentliche Kern der humanitären Notlage“, sagt ein Sprecher des UNHCR. „Es gibt eine Flüchtlingskrise, aber sie findet innerhalb des Landes statt.“ Größere Fluchtbewegungen aus der Region heraus beobachte man hingegen kaum.
Knaus, Vorsitzender der Denkfabrik European Stability Initiative, bestätigt das. Die Grenzen zu Nachbarstaaten seien abgeriegelt, sagt der Migrationsforscher. In Nachbarländern wie dem Iran oder Pakistan registrierten das UNHCR und seine Partner in diesem Jahr gerade einmal 16.500 afghanische Flüchtlinge.
Knaus zieht daraus seine Schlüsse: „Um schutzbedürftige Menschen werden wir uns nun proaktiv bemühen müssen. Es werden Verhandlungen notwendig sein, zwischen Staaten, die Geflüchtete aufnehmen wollen, und den Taliban und regionalen Akteuren, die das logistisch möglich machen“, sagt Knaus. „Wenn es gelingt, legale Wege zur Einreise in westliche Staaten zu schaffen, wenn Staaten wie Deutschland jeweils Zehntausende Schutzbedürftige aufnehmen, könnte das ein Wendepunkt im internationalen Flüchtlingsregime sein.“
Mehr als vier Millionen Kinder haben keinen Unterricht
Mädchen und Jungen, die in Krisenregionen aufwachsen, haben eines gemeinsam: Sie träumen von Frieden, Bildung und einer vernünftigen Mahlzeit. Da machen die Kinder in Afghanistan keine Ausnahme. Doch die Realität ist eine völlig andere. Das Leben der Kleinsten ist geprägt von Gewalt, Not, Ausbeutung und Hoffnungslosigkeit. Und das seit 20 Jahren. Eine ganze Generation kennt nichts anderes als einen von Elend und Krieg geprägten Alltag. Sie haben gesehen, wie Geschwister an Hunger, Armut und Krankheiten gestorben sind – und es könnte nach dem Abzug der Amerikaner und der Machtübernahme der Taliban alles noch viel schlimmer werden.
Schätzungen verschiedener Hilfsorganisationen und der Vereinten Nationen zufolge sind schon heute zehn Millionen Mädchen und Jungen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besonders verheerend wirkt sich der Mangel an Lebensmitteln aus. Fast die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren könnte in den kommenden zwölf Monaten akut unterernährt sein. Für viele Familien ist eine nahrhafte Mahlzeit unbezahlbar. Deshalb werden Töchter zwangsweise verheiratet, müssen Söhne arbeiten gehen oder werden von bewaffneten Gruppen rekrutiert.
Wer ein Dach über dem Kopf hat, kann sich glücklich schätzen. Allein seit Anfang Juni wurden 80.000 Kinder aus ihrem Zuhause vertrieben. Sie sind jetzt Flüchtlinge im eigenen Land, leben mit ihren Familien in behelfsmäßigen Unterkünften aus Plastikplanen oder sogar unter freiem Himmel. Dabei beginnt bald der oft bitterkalte Winter.
An einen Schulbesuch ist unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Mehr als vier Millionen Kinder haben nach Angaben von Unicef keinen Unterricht. Hassan Noor, Asien-Direktor bei der Organisation Save the Children, beschrieb die Lage kürzlich so: „Das Militär ist abgezogen, aber wir rufen die internationale Gemeinschaft dringend auf, zu bleiben und die Kinder in Afghanistan zu unterstützen. Mit Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, Unterkünften und Bildung. Wenn das nicht geschieht, waren die Anstrengungen der letzten 20 Jahre umsonst.“ (mit AFP)