Minsker Abkommen: Wird die Ostukraine ein „eingefrorener Konflikt“?
Ende von fast anderthalb Jahren Funkstille: Die Außenminister Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs sprechen wieder über die Ostukraine. Ein Gastbeitrag.
In der Ukraine gibt es keinen Waffenstillstand, sondern Krieg auf niedriger Flamme. Ein Krieg nach altem Muster: Panzer, Mörsergranaten, Minen. Seit Beginn der Konflikte um die Ukraine im Jahr 2014 - der Annexion der Krim durch Russland und der Übernahme eines Teils des Donbass durch russisch unterstützte Separatisten - sind etwa 10.000 Personen ums Leben gekommen. Die Minsker Abkommen werden beständig gebrochen: durch Panzer, die zu nah an der Entwaffnungszone entlangfahren, durch Minensichtungen, durch Schüsse, seien sie gezielt oder ziellos abgefeuert. Im Durchschnitt kommt es tagtäglich mehr als 1000 Verletzungen des Abkommens.
Jeden Tag rücken um die zehn Patrouillen der Special Monitoring Mission (SMM) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Standort Mariupol am Asowschen Meer aus: Sie protokollieren detailgenau alle Vorfälle, welche den im Belarussischen Minsk verhandelten Waffenstillstand zum Hauptkonflikt um die Ostukraine brechen. Die SMM hält eine Äquidistanz zu den beiden Seiten: Sie dokumentiert lediglich, dass der Waffenstillstand gebrochen wurde, zeigt aber nicht mit dem Finger auf die ukrainische Regierung oder die Separatisten / Russland als Urheber.
Die Beobachterinnen und Beobachter sprechen auch mit der Bevölkerung und fragen, was für Probleme die Menschen haben. In dieser menschlichen Dimension, wie es im Mandat der SMM heißt, untersuchen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Mission die humanitäre und menschenrechtliche Situation der Bevölkerung. Sie erfahren, wo Hilfslieferungen nötig sind und ermöglichen diese. Und immer wieder verhandeln sie lokale Waffenstillstände, damit beispielsweise eine Wasserleitung oder eine Stromleitung repariert werden kann.
Eine Granate schlägt in eine Schule ein. Ein Schule!
Die humanitäre Situation ist besorgniserregend: Gerade diejenigen, die im Kriegsgebiet in der Nähe der sogenannten Kontaktlinie in ihren Häusern und Wohnungen ausharren, leiden an Mangelernährung und fehlender medizinischer Versorgung. Doch trotz 1,6 Millionen Binnenflüchtlingen aus dem Donbass und von der Krim sieht man wenige Flüchtlingslager. Die meisten Menschen aus dem Osten der Ukraine sind bei Verwandten und Bekannten auf der ukrainischen Seite der Kontaktlinie untergekommen.
Und jeden Tag wieder steht die Einsatzleitung des sogenannten Hubs oder Knotenpunktes der SMM in Mariupol vor der Frage, wohin sie die Patrouillen schicken kann. Sie muss abwägen zwischen dem Erkenntnisgewinn der Ausfahrten, um das Mandat der SMM zu erfüllen, und der Sicherheit ihrer Beobachter. Ist es das Risiko wert, Monitore in eine unabsehbare Lage zu schicken? Bei einem Besuch in Mariupol Mitte Mai erlebten wir, dass eine Granate in die Mensa der Schule des Dorfes Sachanka, circa 15 Kilometer entfernt, einschlug; ein Schüler soll verletzt worden sein.
Wie sollten die Beobachter reagieren? Sollten sie sich sofort ein Bild von der Situation vor Ort machen? Sollten sie lieber abwarten? Nach Beratungen mit den Sicherheitsexperten der SMM holte sich die Einsatzleitung Sicherheitsgarantien beider Konfliktparteien ein und wies die Beobachter an, vorsichtig an das Dorf heranzufahren und dabei immer wieder Pausen einzulegen, um die Waffenruhe einer Hörprobe zu unterziehen.
Unter den etwa 700 Beobachtern an verschiedenen ukrainischen Standorten sind auch knapp 30 aus Deutschland. Sie alle fungieren als Ohren und Augen der internationalen Gemeinschaft. Und arbeiten unter schwierigen Bedingungen, insbesondere die fast 600 Monitore an der Kontaktlinie in der Ostukraine zu den Separatisten. Sie stammen aus 44 der 57 Teilnahmestaaten der OSZE, die eigentlich eine permanente Konferenz, aber keine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit ist. Der Mission gehören auch russische und US-amerikanische Beobachter an. Viele von ihnen leben unter kargen Bedingungen und stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit in Hotels. Die drei deutschen Beobachter im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Mariupol konnten gerade eigene möblierte Wohnungen beziehen – ein kleiner Luxus im Kriegsgebiet.
Der Dialog mit Russland findet statt, hat aber keine tragfühigen Ergebnisse
Der Konflikt hat die OSZE, die international schon fast in Vergessenheit geraten war, wieder wachgerüttelt. Diskutiert wird aber auch seit längerem, ob nicht noch eine UN-Friedensmission eingesetzt werden sollte. Zunächst kam der Vorschlag 2015 vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko, dann hat der russische Präsident Putin im Herbst 2017 den Ball aufgenommen. Problem Nummer eins: Die Russen stellen sich eine Aufpassertruppe für die SMM an der Kontaktlinie vor, die Ukrainer hingegen versprechen sich eine umfassende Präsenz in den besetzten Gebieten, um deren in Minsk vereinbarte Wiedereingliederung abzusichern. Problem Nummer zwei: Sollte eine solche Peacekeeping-Mission, eine friedenserhaltende Truppe, eingesetzt werden, wenn es keinen Frieden und keinen funktionierenden Friedensprozess gibt? Und schließlich: Wie könnte sich der UN-Sicherheitsrat in der jetzigen weltpolitischen Gemengelage überhaupt auf ein tragfähiges Mandat einigen?
Gerade hat die Bundeskanzlerin in Sotschi mit Putin gesprochen, danach war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew, Anfang Juni Außenminister Heiko Maas. Fakt ist, dass Russland (wieder) in der weltpolitischen Champions League mitspielt. Ohne Russland können wir nur wenige Probleme lösen. Es ist zu hoffen, dass sich die beiden am längsten dienenden europäischen Regierungschefs einig waren, in der Ukraine nicht noch einen sogenannten eingefrorenen Konflikt entstehen zu lassen - wie in Südossetien, Abchasien, Berg-Karabach und Transnistrien. Gemeint ist damit ein Konflikt, der zwar nicht eskaliert, der aber auch ohne Lösung bleibt und für die Betroffenen erhebliche menschliche und materielle Kosten verursacht. Denn der vielfach beschworene Dialog mit Russland findet ja statt – seit Jahren und auf vielen Ebenen. Doch dieser hat bis jetzt nicht zu tragfähigen Ergebnissen geführt.
Dies gilt auch für das Normandie-Format, das europäische „Kleeblatt“ aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine. Hier könnte ein machtvolles Zeichen gesetzt werden, dass es in Europa sehr wohl möglich ist, ohne die USA einen Konflikt zu beenden. Ein wichtiges Zeichen in Zeiten von Drohkulissen und Holzhammerpolitik. Und ein sichtbarer Erfolg in unserer Nachbarschaft bei der Übernahme von mehr deutscher Verantwortung in der Welt. Doch dazu müsste die Waffenruhe im Donbass eingehalten werden, und die Nachschubwege der Rebellen müssten ausgetrocknet werden. Dazu fehlt offenbar der Wille.
Naiv und blauäugig gegenüber Russland sollten wir dabei nicht sein: Es will seinen Einfluss vergrößern, kein Novum in den internationalen Beziehungen. Die Minsker Vereinbarungen umfassen alle Elemente einer Rückkehr zu einer friedlichen, aber ungeteilten Ukraine. Sie sind bald vier Jahre alt. Kompromisse, wie eine vorübergehende internationale Verwaltung des Donbass, sind denkbar. Sie sind besser als ein Krieg auf niedriger Flamme, eine humanitäre Notsituation in unserer Nachbarschaft und noch ein eingefrorener Konflikt. Die Beobachter der OSZE stehen bereit, diesen Frieden zu überwachen. Zunächst muss neuer Schwung in die Konfliktlösung kommen, der Waffenstillstand halten und der politische Prozess ernsthaft beginnen. Europa ist jetzt gefragt. So sehen das auch die Mariupoler Beobachter.
- Almut Wieland-Karimi war als Geschäftsführerin des Zentrums für internationale Friedenseinsätze (ZIF) kürzlich in der Ostukraine, wo sie die SMM besucht hat, die von der OSZE eingesetzt wird. Das ZIF entsendet deutsches Personal in diese und andere Missionen. Das ZIF wurde 2002 auf Initiative der Bundesregierung und des Bundestages als gemeinnützige GmbH gegründet, Aufsichtsratsvorsitzender ist Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Almut Wieland-Karimi