Ist der Nahostkonflikt lösbar?: „Wir schaden uns immer gegenseitig“
Die Waffen schweigen. Doch der Nahostkonflikt ist nicht beendet. Hier erklären eine Israelin und eine Palästinenserin, wie der Hass überwunden werden kann.
Sie sind beide in Jerusalem geboren. Noam Gerstein wuchs im Westteil der heiligen Stadt auf, Hadil Karawani im Osten. Die eine ist israelische Jüdin, die andere Palästinenserin. Beide spielten als Kinder auf dem gleichen Spielplatz, einem besonderen Spielplatz.
In dessen Zentrum befindet sich eine „Golem“ oder „Monster“ genannte Monumentalfigur. Es ist ein von der Künstlerin Niki de Saint Phalle gestalteter überdimensionierter Kopf mit drei roten Zungen, die als Rutschen dienen. Sind Noam und Hadil womöglich das eine oder andere Mal nebeneinander gerutscht? Sie wissen es nicht.
Denn kennengelernt haben sich die beiden erst als Mütter in Berlin. Noam und Hadil wurden Freunde, weit entfernt von ihrer Heimat. Von Deutschland aus blicken sie auf den Nahostkonflikt. Gibt es einen Ausweg aus der Gewalt? Kann es ein friedliches Mit- oder zumindest Nebeneinander geben? Hier erklären die Israelin und die Palästinenserin, was sich ändern muss.
Hadil Karawani ist Linguistin und Sprachphilosophin an der Universität Konstanz. Noam Gerstein ist Gründerin von Bina, einer internationalen Grundschule für Familien weltweit, die komplett digital funktioniert.
Wie kann die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis gestoppt werden?
HADIL KARAWANI: Die Gewalt muss ein Ende haben – auf beiden Seiten. Aber ich bin privilegiert. Ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn einem alles geraubt wird. Deshalb kann ich den Menschen in Gaza nicht die Schuld für das geben, was passiert ist. Gaza ist seit 2005/6 abgeriegelt.
Es gibt kein sauberes Wasser, Strom steht nur vier Stunden am Tag zur Verfügung, die Grenzen sind geschlossen. Es gibt zudem Berichte, die nahelegen, dass die Hamas ihre Raketen auch aus Blindgängern herstellt, die Israel in früheren Kriegen abgefeuert hat. Wenn Israel aufhört zu bombardieren, wird es keine Raketen mehr geben.
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NOAM GERSTEIN: Die soeben beendeten Kämpfe wirkten wie ein Krieg zwischen zwei verschiedenen Entitäten, die sich so lange bekämpfen, bis alle verzweifelt sind.
Aber wenn wir uns wirklich in Richtung Frieden entwickeln wollen, müsste die Lösung ein neues Narrativ beinhalten: Wenn wir einander Leid antun, schaden wir uns immer gegenseitig. So betrachtet, ist eine gewaltsame „Selbstverteidigung“ unlogisch.
Welche Möglichkeiten gibt es, den Hass zu beenden?
HADIL KARAWANI: Die Lösung ist einfach. Jedes Kind versteht sie. Wenn du im gemeinsamen Geschwisterzimmer den Teil deines Bruders oder deiner Schwester okkupierst, hat dein Bruder oder deine Schwester gute Gründe, wütend zu sein. Wenn du deshalb geschlagen wirst, kannst du nicht einfach zurückschlagen und dann behaupten, es sei Selbstverteidigung.
Der von dir zu Unrecht beanspruchte Teil des Geschwisterzimmers muss zurückgegeben werden, und du musst dich bei deinem Bruder oder deiner Schwester entschuldigen. Dann heißt es, geduldig darauf warten, dass dir verziehen wird. Wenn alle das ernst meinen, wird es nicht lange dauern, bis es dazu kommt.
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NOAM GERSTEIN: Ohne eine gemeinsame Identität sind wir dem Untergang geweiht. Wir können und müssen eine zusammenhängende Geschichte von uns erzählen, die die Herkunft beider Völker berücksichtigt. Daraus abgeleitet, können wir beginnen, gemeinsam eine respektvolle Gesellschaft für alle aufzubauen. In den Köpfen unserer Kinder ist die Sache klar: Wir stammen alle aus einer gemeinsamen Heimat - und sie haben Recht.
Was ist notwendig, damit Israelis und Palästinenser langfristig friedlich zusammenleben können?
HADIL KARAWANI: Grundlegende Menschenrechte und die Menschenwürde müssen respektiert werden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kein Mensch, egal welcher Religion oder einer sogenannten Rasse, ist einem anderen überlegen. Der jüdische Teil der Bevölkerung hat definitiv das Recht auf Schutz sowie religiöse und kulturelle Selbstbestimmung.
Aber weder das Recht auf Selbstbestimmung noch das Recht auf Schutz können zur Folge haben, dass die Rechte anderer eingeschränkt werden. Eine Lösung, die sicherlich viele zufriedenstellen würde: Die Blockade des Gazastreifens endet, das besetzte Westjordanland wird den Palästinensern zurückgegeben, einschließlich der jüdischen Siedlungen und Ostjerusalems.
Israel will eine solche Lösung nicht, es nimmt den ganzen „Raum“ ein und behält sich das Recht vor, sich zu verteidigen. Das Beste wäre daher wohl eine Einstaatenlösung mit gleichen Rechten und gleichem Schutz für Israelis und Palästinenser:innen.
NOAM GERSTEIN: Das „heilige Land“ ist eines mit verschiedenen Klassen, deren Rechte von der Religion und der so genannten Rasse abhängen. Da die Besatzung beide Gesellschaften zerstört hat, die palästinensische wie die israelische, sind die Gräben sehr tief.
Unsere Völker sind aber untrennbar miteinander verbunden, vor allem durch einen andauernden Bürgerkrieg. Wenn die internationale Gemeinschaft wirklich an einem Ende des Nahostkonflikts interessiert ist, lässt sie uns eine Lösung finden, die auf diesem Verständnis gründet.