Hamas und Netanjahu profitieren: Ein Krieg in Nahost, den keiner stoppen will
Die potenziellen Vermittler einer Waffenruhe haben wenig Einfluss und drängendere Sorgen. So geht der Beschuss zwischen Hamas und Israel weiter. Eine Analyse.
Vor neun Tagen hat die Hamas begonnen, vom Gazastreifen aus israelische Ortschaften mit Raketen zu beschießen. Israel antwortet militärisch hart und zerstört Gebäude, von denen aus die Hamas ihren Raketenkrieg führt.
Jeden Tag sterben Menschen. Die internationalen Rufe nach einem Ende der Kämpfe verhallen ergebnislos. Vermittler, die eine reale Chance haben könnten, einen Waffenstillstand zu vermitteln, sind nicht in Sicht. Enden wird der gegenseitige Beschuss erst, wenn die Hamas und Israel das beide gleichzeitig wollen. Von außen ist dieser Krieg nicht zu stoppen.
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Warum ist das so? Alle Beteiligten richten sich nach ihren innenpolitischen Prioritäten und nicht nach einem übergeordneten moral-ethischen Imperativ, das Töten und Sterben um jeden Preis zu beenden. Generell folgt der Nahost-Konflikt Logiken, die den Gesellschaften, die in Europa und Nordamerika im Frieden leben, fremd sind und deshalb schwer nachvollziehbar erscheinen.
Die Hamas-Führung und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu haben sogar jeweils ein gewisses machtpolitisches Interesse an diesem Krieg. Sie kalkulieren, dass keine auswärtige Macht die nötigen Druckmittel hat und auch einsetzen würde, um sie gegen ihren Willen zu einem Waffenstillstand zu zwingen.
Und die Großmächte, die über einen gewissen Einfluss im Nahen Osten verfügen, weil sie die Konfliktparteien mit Hilfsgeldern oder Waffen unterstützen und mit Entzug dieser Hilfe drohen können, haben größere Sorgen. Viele andere Herausforderungen haben höhere Priorität, darunter die Bekämpfung der Pandemie und der mit ihr verbundenen Corona-Rezession, der Umgang mit China, Russland, dem Iran, mit der Klima- und der Migrationskrise.
Manche warnen zwar, dass der begrenzte Gazakrieg sich zu einem Flächenbrand ausweiten könnte. Aber kaum jemand schätzt dies als eine reale große Gefahr ein. Überhaupt hat der Nahe Osten an Bedeutung für die Großmächte verloren.
Niemand in der Region wartet auf deutsche Ratschläge
Viele Worte, die für den Nahen Osten wenig zu bedeuten haben und sich in erster Linie an das heimische Publikum richten: Das gilt, zum Beispiel, für die mahnenden Worte deutscher Politiker. Niemand in der Konfliktregion wartet auf ihre Ratschläge, ob es nun der Drei-Stufen-Plan des Außenministers Heiko Maas ist oder die Forderung des SPD-Kovorsitzenden Norbert Walter-Borjans, deutsche Rüstungshilfe an Israel an Mitsprache zu koppeln. Deutsche haben den Holocaust zu verantworten; auch die heute lebenden Nachkommen der Täter halten sich besser zurück.
Die Europäische Union hat keine gemeinsame Haltung zur Konfliktlösung in Palästina. Mittelmeerstaaten mit zum Teil bedeutenden arabischstämmigen Minderheiten tendieren zu mehr Verständnis für die palästinensische Seite, Deutschland und andere EU-Mitglieder eher zur Solidarität mit Israel. Die EU hat zudem nur Soft Power, darunter ihre milliardenschweren Aufbau- und Förderprogramme. An Hard Power mangelt es. Die wäre zum Beispiel nötig, um die Einhaltung der Bedingungen eines Waffenstillstands zu überwachen und durchzusetzen.
Biden laviert aus Furcht vor linken Demokraten und Republikanern
US-Präsident Joe Biden hat die einseitige Parteinahme seines Vorgängers Donald Trump für Israel korrigiert, die Hilfen für Palästinenser wieder aufgenommen und bekennt sich zur Zwei-Staaten-Lösung. Doch angesichts der Vielzahl politischer Baustellen, die er geerbt hat, sieht er wenig Grund, nun viel Zeit und Energie in einen Vermittlungsversuch in Nahost zu investieren. Er kann dabei wenig gewinnen, riskiert aber eine Ablenkung von den innenpolitischen Prioritäten.
Innenpolitisch riskiert Biden bei dem Thema harte Kritik von zwei Seiten. Die Republikaner werfen ihm vor, er lasse es an Verständnis für Israel fehlen. Vertreter des linken Flügels der Demokraten ergreifen wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez derweil immer stärker Partei für die Palästinenser. Manche nennen Israel einen „Apartheids-Staat“.
So laviert Biden, verhindert einerseits eine Resolution des UN-Sicherheitsrats mit dem Veto der USA und betont Israels Recht, sich zu verteidigen. Andererseits mahnt er Netanjahu, Zivilisten zu schützen und „unterstützt“ die Forderung nach einer Waffenruhe, verlangt sie aber nicht ausdrücklich.
Hamas-Strategie: Angreifen und in der Zwischenkriegszeit aufrüsten
Die Hamas und Israels Regierungschef verfolgen derweil ihre eigenen Interessen und richten sich nach einem Drehbuch, das man aus früheren Eskalationen kennt, etwa 2014. Die Hamas nutzt die Zwischenkriegszeit, um ihre Vorräte an Raketen und anderen Waffen aufzufüllen, auch mit Hilfe von Verbündeten wie dem Iran und Syrien. Sie benutzt als Abschussstellen in gezielter Missachtung des Kriegsvölkerrechts auch Schulen und Krankenhäuser oder auch Bürogebäude internationaler Medien, um Israels Streitkräfte vor ein Dilemma zu stellen: Schießen sie auf diese Stellungen zurück, gibt es fast zwangsläufig Opfer unter Zivilisten.
Hat die Hamas den Großteil ihrer Raketen verschossen, erklärt sie ihre Bereitschaft zur Waffenruhe. Doch darauf geht Israel nicht ein, weil das militärische Ziel seiner Streitkräfte nun ist, die Infrastruktur der Hamas zu dezimieren: Waffenlager, eigene provisorische Waffenfabriken, Kommandozentralen sowie die Tunnelsysteme an Gazas Grenzen, über die Attentäter nach Israel eingeschleust werden. Israel wird einer Waffenruhe erst zustimmen, wenn es diese Ziele weitgehend erreicht hat.
Vor 15 Jahren durften Palästinenser zuletzt wählen
Machtpolitisch nutzt der Krieg der Hamas und Netanjahu. Die Hamas, die den Gazastreifen in einer rücksichtslosen Diktatur kontrolliert, profiliert sich damit gegenüber der Fatah des offiziellen Präsidenten der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, die die Macht im Westjordanland ausübt. Hamas und Fatah wollen jeweils die maßgebende Stimme aller Palästinenser sein.
Der Konflikt eskalierte nicht zufällig jetzt. Am 22. Mai sollten die Palästinenser wählen. Seit 15 Jahren hat es keine Wahl mehr gegeben. Abbas, der damals für vier Jahre gewählt worden war, sagte den Urnengang auch jetzt wieder ab, weil er einen Sieg der Hamas fürchtete. Als Reaktion wollte die Hamas ihre Stärke demonstrieren.
Zwei Auslöser: Enteignungen und die Entweihung der Al-Aqsa-Mosche
Zwei Konflikte boten sich als Auslöser an. Beide haben mit der Eroberung des arabischen Ostteils von Jerusalem durch Israel zu tun. Viele deutsche und europäische Medien nennen die Enteignungen arabischer Häuser in Ostjerusalem sowie die jüdischen und palästinensischen Demonstrationen am so genannten „Jerusalem-Tag“ als Auslöser.
Die „New York Times“ analysiert, die Vorkehrungen für eine Rede des israelischen Staatspräsidenten an der Klagemauer aus Anlass des Gedenktags für die Toten der Kriege habe zur Eskalation geführt. Israel wollte, dass die Lautsprecher der Al-Aksa-Moschee direkt über der Klagemauer für diese Zeit abgeschaltet werden. Die arabische Seite verweigerte das. Sicherheitskräfte durchtrennten die Lautsprecherkabel am ersten Tag des Fastenmonats Ramadan – worin Muslime eine Entweihung sahen.
Netanjahus direkter politischer Nutzen: Er war gerade mit der Regierungsbildung gescheitert. Nun bekam die Opposition den Auftrag. Sie hätte die Partei der Araber in Israel für ihre Koalition gebraucht. Dieses Bündnis ist nach den Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern in Israels Straßen kaum zu schmieden. Und so hat Netanjahu wieder einmal seine Entmachtung verhindert.
Christoph von Marschall