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Malu Dreyer ist Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz sowie kommissarische SPD-Vorsitzende.
© dpa/Jörg Halisch

50 Jahre Bundeskanzler Willy Brandt: „Wir müssen wieder mehr Reformen wagen“

Die kommissarische SPD-Chefin Malu Dreyer fordert Mut von Politikern: Veränderungen müssen Zukunftsversprechen sein, keine Bedrohung. Ein Gastbeitrag.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer ist auch kommissarische Parteichefin der Sozialdemokraten.

Vor 50 Jahren stand die Bundesrepublik vor einem gewaltigen Umbruch. Der Ruf nach Veränderung im Land war ohrenbetäubend. Studenten begehrten auf, und mit Willy Brandt wurde erstmals ein Sozialdemokrat Kanzler der noch jungen Bundesrepublik. Er, der im Untergrund Widerstand gegen die Nazis leistete und nach Oslo emigrierte, avancierte zum Hoffnungsträger einer ganzen Generation und sollte auch mein politisches Leben, das mich von Amnesty und der feministischen Mädchenarbeit zur SPD führte, entscheidend prägen.

Am 28. Oktober 1969 formulierte Brandt in seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag jenen Leitspruch, der seine Politik, seine Regierungszeit und die Bundesrepublik Anfang der 70er wie kaum ein anderer prägen sollte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Es waren jene Worte seiner Rede, die eine bis dahin nie dagewesene und dringend benötigte Zeit der Reformen und des Fortschritts einläutete. Eine Reformpolitik, die so groß war, dass der Historiker Manfred Görtemaker in der Rückschau von der „Umgründung der Republik“ sprach.

Eine Politik des Wagnisses

Willy Brandt und die SPD-geführte Regierung rüttelten die bundesrepublikanische Ordnung mächtig auf. Bürgerinnen und Bürger mündiger zu machen, selbstbestimmter im demokratischen Miteinander, war ein Ziel: Bürgerrechte wurden erweitert, politische und soziale Teilhabe gestärkt. So wurde das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, die Hochschulen für Arbeiter und „kleine Leute“ geöffnet, betriebliche Mitbestimmung ausgedehnt, der Sozialstaat ausgebaut, das Strafrecht humanisiert, die Geschlechtergleichheit verbessert, die Akzeptanz sexueller Selbstbestimmung gestärkt und vieles mehr.

Während Adenauers CDU „Keine Experimente“ zum Credo ihrer Politik erhob, setzte Brandt und die SPD auf das Motto „Keine Angst vor Experimenten.“ Sie setzte auf eine Politik des Wagnisses, die tief geprägt war von der sozialdemokratischen Überzeugung, wonach Reform und Wandel zu gesellschaftlichem Fortschritt und Zusammenhalt führen. Sinnbildlich dafür steht auch die neue Ostpolitik, die auf eine deutsch-deutsche Annäherung setzte und damit den Grundstein zur späteren Wiedervereinigung legte. Kurzum: Die Ära Brandt stellte die politische Ordnung jener Zeit vom Kopf auf die Füße. Keine Frage: Die Forderung nach „mehr Demokratie“ und einer Neuorientierung gegenüber dem deutschen Nachbarn polarisierte. Ich lebte damals noch in meinem CDU-geprägten Elternhaus und konnte erleben, wie stark Willy die Familie spaltete. Während seiner Regierungserklärung vor 50 Jahren rumorte es auch mächtig in den Reihen der Union. Wirtschaftsvertreter beklagten eine „gewerkschaftliche Machtergreifung“ in den Betrieben und nicht wenige Herren Professoren echauffierten sich ob der angekündigten Stärkung der Mitbestimmung an den Hochschulen.

Willy Brandt als Außenminister der großen Koalition im März 1969.
Willy Brandt als Außenminister der großen Koalition im März 1969.
© AFP

Und trotz all dieser Widerstände setzten SPD und FDP gemeinsam zentrale Reformversprechen um. Was heute so selbstverständlich erscheint, musste damals hart errungen werden. Nicht immer gab es dafür Beifall. Während die politische Rechte die Brandtsche Formel nach „mehr Demokratie“ als sozialistisch anfeindete, ging es der sich immer stärker radikalisierten Studentenbewegung nicht weit genug. Zwischen diesen Polen musste Brandt seine Reform-Politik behaupten.

In dieser Zeit der Unruhe, die von konservativen Beharrungskräften auf der einen und radikalen Umwälzungs-Phantasien auf der anderen Seite geprägt waren, verstand es Brandt, die Schlagworte „Kontinuität“ und „Erneuerung“ in seiner Regierungserklärung und auch in seiner Politik miteinander zu versöhnen. Eine historische Leistung von Willy Brandt war es, die Menschen durch die anstehenden Umbrüche und Veränderungen zu lotsen und mitzunehmen. Ihm ging es darum, sie für die Reformen zu gewinnen, damit die Demokratie für alle im Land zum Sehnsuchtsort ihrer Träume und Wünsche wird. Brandt wusste, dass dieser Weg mühsam ist. Er sorgte sich um die „innere Ordnung“ der Gesellschaft, wohlwissend, dass einen auf dem Weg zur Neubegründung des Landes zu große Schritte auch weit zurückwerfen könnten. Ihm ging es daher nicht um eine Politik, die Fortschritt von oben herab verordnete, sondern von unten ermöglichte. „Mitwirkung“ war sein Schlüsselwort. „Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen“, sagte Brandt nachdenklich.

Angst bestimmt die Politik, nicht Zuversicht

Heute, 50 Jahre nach seinem Appell, mehr Demokratie zu wagen, der darauf ausgerichtet war, Menschen zusammenzubinden, erleben wir abermals eine tiefe Spaltung der Gesellschaft. Die Lücke zwischen arm und reich klafft weiter auseinander, statt sich zu schließen. Menschen auf dem Land fühlen sich abgehängt. In Ost und West werden wieder stärker Differenzen betont statt Gemeinsames. Der politische Diskurs vergiftet sich und die Geduld, einander zuzuhören und zu verstehen, wie es sich Brandt wünschte, schwindet zunehmend, auch aufgrund überhitzter Emotionen in den sozialen Medien.
Viel zu oft bestimmt die Angst die Politik und nicht die Zuversicht. Immer häufiger wird die „Zerstörung“ herbeigeredet und nicht der Neuaufbau. Panik, Unsicherheit, Krise und Sorgen sind bestimmende Schlagworte unserer Zeit. In einem solchen gesellschaftlichen Klima wird der Zusammenhalt auf eine harte Probe gestellt. Politische Hasardeure spielen gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aus, hier die Minderheiten, da die sozial Schwachen. Eine Rhetorik, die am Ende mörderische Konsequenzen haben kann.

Brandts Kniefall von Warschau 1970 war eine der großen politischen Symbolhandlungen des 20. Jahrhunderts.
Brandts Kniefall von Warschau 1970 war eine der großen politischen Symbolhandlungen des 20. Jahrhunderts.
© dpa

Zugleich verlieren wir bei zentralen Zukunftsdebatten immer öfter den Blick für das Ganze und betrachten historische Aufgaben wie die Klimakrise allein aus dem Augenwinkel einer bestimmten Haltung, die den Blick für andere Lebensrealitäten verstellt. Hier ist es Aufgabe der Politik, gerade der sozialdemokratischen, eine ganzheitliche Reformagenda des sozialen und ökologischen Neustarts und des nachhaltigen Umbaus unserer Industrie wiederzubeleben.

Historische Vergleiche zu setzen sind oft verzerrend, aber ich möchte dennoch eine Lesart wagen. Willy Brandt verstand es, die Menschen für seine Reformpolitik zu begeistern, weil sie ein Angebot war, keine Verordnung. Erfolgreiche Veränderungen erfordern eine gesellschaftliche Stärke, die durchs Zusammenführen und nicht durchs Gegeneinander entsteht.

In seiner Regierungserklärung adressierte Brandt daher nicht nur die eigene Zielgruppe, sondern bewusst auch den politischen Gegner. Die große Klammer seiner Regierungszeit, mit der er alle hinter sich vereinen wollte, war Zuversicht und nicht Angst. Denn Angst ist niemals ein guter Ratgeber für politische Veränderung. Angst verbindet die Menschen nicht, sie trennt.
Viele fragen sich heute, welches Zukunftsbild die Sozialdemokratie von unserer Gesellschaft hat. Auch unsere 430.000 Mitgliedern ringen darum. Für mich ist es die Balance aus Fortschritt und Zusammenhalt, die meine Politik leitet. Als Mensch, der zwar mitten im Leben, aber nicht immer ganz sicher auf seinen Beinen steht, weiß ich: Balance ist kein statischer Zustand, sondern muss ständig erkämpft und zugleich behutsam verteidigt werden. Das ist für mich die große Zukunftsaufgabe sozialdemokratischer Politik.
Wer auf die letzten 50 Jahre zurückblickt, sieht, dass unsere Gesellschaft zu Fortschritt bereit ist. Deutschland hat seit der Regierungserklärung von Willy Brandt Unvorstellbares geschaffen. Ostdeutsche wie Westdeutsche haben „mehr Demokratie“ durchgesetzt. Wir sind wirtschaftlich so stark wie nie und als erstes Industrieland der Welt wagen wir es, aus Atom- und Kohlestrom gleichzeitig auszusteigen. Wenn uns diese gewaltige Transformationsaufgabe gelingen soll, müssen wir wieder Reformen „wagen“, die als Zukunftsversprechen verstanden werden und nicht als Bedrohung.

Videos zu 50 Jahre Kanzler Willy Brandt auf auf www.tagesspiegel.de

Malu Dreyer

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