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Ein Kind schlägt seine Hände vor das Gesicht.
© Nicolas Armer/dpa

Situation gefährdeter Familien: „Alltagsroutinen entfallen, die Kinder geraten aus dem Blick“

Zu Hause bleiben zu müssen ist für viele Familien anstrengend. Umso mehr, wenn es ihnen auch sonst nicht gut geht. Ein Interview mit dem Deutschen Kinderverein.

Rainer Rettinger ist der Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins, der seinen Sitz in Essen hat.

Herr Rettinger, Sie warnen vor dem Anstieg von Gewalt in den Familien, während der notwendigen Phase der Schließung von Schulen, Kindergärten, Sportvereinen. Warum?

Weil wir große Sorge haben, dass Kinder jetzt aus dem Blick geraten. Deshalb schlagen wir, wenn Sie so wollen, Alarm und fragen uns, wer jetzt auf misshandelte und sexuell missbrauchte Kinder sieht.

Wir befürchten zudem, dass die Hilfe zur Erziehung, die im Kontext mit Kinderschutz erbracht werden, heruntergefahren werden, weil sich das Personal selbst schützen will, was es sicherlich auch muss.

Uns liegt ein Schreiben eines Jugendamtes vor, in dem der Leiter genau diese Thematik anspricht und die aufsuchenden Helferinnen und Helfer darum bittet, diese Kontakte mit gefährdeten Familien möglichst zu reduzieren. Für die Kinder kann das lebensgefährlich werden.

Ist die gesamtgesellschaftliche Pflicht zur Auszeit nicht auch eine schöne Chance für viele Familien, Zeit füreinander zu finden, zusammen zu spielen, zu kochen und vieles mehr?  

Ja, so ist es in den meisten Familien. Aber eben nicht für alle. Denken Sie nur an Kinder von Müttern und Vätern mit Sucht-Problemen oder anderen psychischen Störungen, die bisher kaum in der Lage waren, den Bedürfnissen ihres Kindes gerecht zu werden.

Was in gelingenden Eltern-Kind-Beziehungen als Chance für wertvolle Familienzeit empfunden wird, birgt hier vermutlich – und das ist unsere große Sorge – ein hohes Risiko für betroffene Kinder.

Aus der Quarantäne-Stadt Wuhan in China wurde bekannt, dass häusliche Gewalt während der Zeit des Eingeschlossenseins zugenommen hat. Was verursacht den Stress?

Hilfreiche Alltagsroutinen entfallen in der Quarantäne, die Familie sitzt auf oft engem Raum ohne Privatsphäre zusammen. Noch dazu erhöhen die Furcht vor Krankheit oder auch tatsächliche Erkrankungen und Todesfälle den seelischen Stress.

Der Besuch der Kita oder Schule, sonst in der Lage, Eltern und  Kinder zu entlasten, entfällt wochenlang. Der Spielplatz ist zu, die Nachbarn gehen auf Distanz, das Kind ist mit den Eltern oder auch nur einem Elternteil allein.

Denken Sie an die Kinder suchtkranker Eltern, Kinder, die normalerweise durch die Schule, Freunde, Lehrerinnen und Lehrer, durch Mittagsbetreuung im Hort noch etwas Halt von der Außenwelt bekommen.

Nun ist so ein Kind mit den Eltern allein. Keiner ist in der Nähe, der die Notlage der Mutter oder des Vaters, der Eltern im Blick hat, keiner, der die Not des Kindes sieht - und damit haben wir eine besorgniserregende Situation.

Rainer Rettinger
Rainer Rettinger
© Christian Ditsch/Imago

Konkret: Was muss präventiv oder intervenierend geschehen?

Dass diese Kinder in der jetzigen Lage der Gewalt hilflos ausgeliefert sein können, ist der Politik bekannt. Nun muss gehandelt werden: Wer gefährdete Kinder für viele Wochen von der Außenwelt abschneidet, braucht Konzepte im Umgang mit Familien, in denen aus der Beziehung von Eltern und Kind eine Beziehung von Tätern und Opfern wird.

Für überlastete Eltern und gefährdete Kinder braucht es jetzt dringend niederschwellige Hilfsangebote, am besten digitale. Die Information dazu sollte über Medien und soziale Netzwerke verbreitet werden.

Medien und Lernplattformen für Kinder müssen die Probleme der akuten Lage aufgreifen und auch gezielte den Kindern Ansprechstellen nennen. Online-Beratungsstellen für Erwachsene und für Kinder müssen in Deutschland mit einem Sofortprogramm finanziell und personell aufgestockt werden.

Oft ist die Situation von Familien, in denen Kinder potenziell gefährdet sind, Lehrern und Lehrerinnen sowie Kita-Mitarbeitern bekannt. Sie müssen jetzt aktiv von der Jugendhilfe angesprochen und angehört werden.

Diese braucht Konzepte zur aufsuchenden Arbeit in Familien, zugleich müssen die am Limit arbeitenden Jugendämter – was ohnehin gilt - personell verstärkt werden.

Was können wir als Nachbarn, Freunde, Verwandte tun?

Wenn man Zweifel am Wohl eines Kindes in seiner Umgebung hat, sollte man seine Sorgen dem Jugendamt oder einer Hotline für Kinderschutz mitteilen.  Das geht auch anonym.

In Berlin gibt es die gute Hotline Kinderschutz unter 030 61 00 66.

An die Politik appellieren wir, nicht nur die Wirtschaft mit finanzieller Hilfe zu stützen, sondern auch die Freie und Öffentliche Jugendhilfe und besonders auch gemeinnützige Organisationen, da alle mit Spendenrückgang von Unternehmen und Privatpersonen rechnen müssen.

Es wäre verantwortungslos, wenn wichtige Projekte im Bereich Beratung und Betreuung gerade jetzt in existenzielle Schwierigkeiten geraten.  

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