Klarer Sieg der PiS in Polen: Warum Polens Pro-Europäer falsch kalkulieren
Die Strategie der Liberalen setzt zu sehr auf die großstädtischen Eliten und vernachlässigt das Lebensgefühl in der Provinz. Ein Kommentar.
Polens liberales Lager hatte vor der Europawahl Optimismus verbreitet: Diesmal werde es gelingen, die Dominanz der nationalpopulistischen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) zu brechen. Die Liberalen hatten die Zersplitterung überwunden und waren mit einer gemeinsamen Parteienliste angetreten. Bei einer Europawahl, so die Erwartung, würden Euroskeptiker wie die PiS ein Problem haben, ihre Anhänger zu mobilisieren, und auch deshalb nicht so gut abschneiden.
Der Einfluss von Youtube-Videos wird überschätzt
Zudem wurde zwei Wochen vor der Wahl ein Dokumentarfilm über Kindesmissbrauch durch Priester im Internet veröffentlicht: „Tylko nie mów nikomu“ („Sag es bloß niemandem“) des Journalisten Tomasz Sekielski. Er ging viral: über 15 Millionen Mal wurde er binnen weniger Tage aufgerufen; inzwischen sind es 21,5 Millionen Klicks. Der Schock über die Untaten der Kirche und ihre lange Vertuschung werde, so glaubten viele, der PiS schaden. Denn die hatte sich im Wahlkampf eng an die katholische Kirche gebunden.
Doch am Montag nach der Wahl gab es lange Gesichter. Auch unter den, wie man meinte, günstigen Bedingungen hat es wieder nicht geklappt. Die PiS bleibt stärkste Kraft und liegt nach Angaben der Behörden in Warschau vom Montagmorgen nach Auszählung von 96 Prozent der Stimmen bei einem Anteil von 46 Prozent. Das pro-europäische Bündnis aus mehreren Oppositionsparteien "Koalicja Europejska" (KE) kommt auf rund 38 Prozent. Die neu gegründete progressive Partei "Wiosna" (Frühling) erhielt sechs Prozent der Stimmen.
Das Land ist in Ost und West gespalten
Geografisch ist das Land gespalten, wie Karten zeigen: In der westlichen Hälfte und der weiter östlich gelegenen Hauptstadt Warschau dominiert das proeuropäische Bündnis. In der östlichen Hälfte dominiert die PiS. Diese Teilung hat sich in den 30 Jahren seit der Wende verfestigt. Früher sprach von "Polen A" und "Polen B". Es ist zugleich eine Spaltung zwischen den großen Städten, die zum Großteil in der westlichen Landeshälfte liegen - wie Breslau, Danzig, Posen - auf der einen Seite sowie den Kleinstädten und Landgemeinden, die die östliche Hälfte prägen. Zwei Ausnahmen sind die Hauptstadt Warschau, die östlich der Mitte liegt. Sowie die Universitätsstadt und ehemalige Königshauptstadt Krakau im Südosten. In der Stadt haben die Pro-Europäer die Mehrheit, doch im Umland geben die Nationalkonservativen den Ton an.
Das Übergewicht der PiS im Umland von Warschau und Krakau ist so groß, dass sie damit, wenn man das Gesamtergebnis der jeweiligen Wojewodschaft betrachtet, den Vorsprung der Liberalen in der Großstadt mehr als wettmachen. Eine Wojewodschaft entspricht einem deutschen Bundesland.
Warum hat sich das liberale Lager verkalkuliert? Die 38 Prozent, die es erzielte, sind kein schlechtes Ergebnis. Aber die PiS hat, obwohl es "nur" um Europa ging und nicht um die nationale Parlamentswahl, ihre Wähler gut mobilisieren können. Darunter sind viele ältere Bürger, die von der Kirche gleich weiter ins Wahllokal gingen, um ihre Stimme abzugeben. Ältere Dorfbewohner haben zudem eine höhere Wahlbeteiligung als die städtische Jugend. Im Landesschnitt lag sie bei 43 Prozent und damit höher als bei der Europawahl 2014. Die liberalen Stadtbewohner unterschätzen die Kirchenbindung ihrer Landsleute und den Anteil des Glaubens an der nationalen Identität. Und sie überschätzen den Zugang der Menschen in ländlichen Regionen zu den Informationsangeboten im Internet.
Lehren für die nationale Parlamentswahl im Herbst
Die EU-Bürger in ländlichen Regionen im Osten Polens ticken anders als die westeuropäischen Eliten. Hinzu kommt: Polen fühlen sich oft missverstanden und meinen, dass Westeuropäer die Gründe, warum sie die Welt anders sehen, gering schätzen. Auch das sollten proeuropäische, liberale Polen in ihrem Wahlkampf bedenken.
Im Herbst folgt die Parlamentswahl. Die Liberalen müssen zulegen, wenn sie die Regierungsmacht in Warschau von der PiS übernehmen wollen, die dort seit 2015 regiert. Soweit man aus der Europawahl überhaupt Hinweise ableiten möchte, lauten sie: Die Anti-PiS-Koalition muss sich noch breiter aufstellen, muss die Partei "Frühling" und die Überbleibsel der ex-kommunistischen Sozialdemokratie integrieren.
Das polnische Wahlrecht - aber auch das ungarische - hat eine Besonderheit gegenüber dem deutschen: Im Prinzip gilt proportionales Wahlrecht. Aber die stärkste Partei bekommt zusätzlich zu ihrem Abschneiden nach Prozentpunkten einen Bonus an Parlamentssitzen. Dieser Mechanismus soll es erleichtern, eine Regierungsmehrheit zu sichern. Wenn die Pro-Europäer die PiS ablösen wollen, muss ihr Parteienbündnis stärkste Kraft werden. Es genügt nicht, zweitstärkste Kraft zu werden und sich einen Koalitionspartner zu suchen, der die fehlenden Prozentpunkte beiträgt.