Asylrecht-Debatte: Der Horizont von Friedrich Merz liegt in der Vergangenheit
Möglicherweise hat Friedrich Merz 15 Jahre lang politischen Winterschlaf gehalten. Seine Bemerkungen zum Asyl legen den Verdacht nahe. Ein Kommentar.
Wer der CDU wirklich übelwill, muss ihr diesen Mann als Vorsitzenden wünschen. Und zwar nicht, weil Friedrich Merz sich als Skipper einer konservativen Wende der Merkel-CDU empfiehlt. Im Konservatismus gab und gibt es schließlich immer Leute, die verstanden haben, dass der Blick nach vorn sich durchaus damit verträgt, dass man bewahrt, was man, mit wie guten Gründen auch immer, des Konservierens für wert hält. Friedrich Merz allerdings hat mit seinen Bemerkungen zum Asylrecht im Grundgesetz erneut einen Beweis geliefert, dass sein politischer Horizont in der Vergangenheit, liegt, sozusagen hinter seinem eigenen Rücken.
Sein politischer Horizont ist die Vergangenheit
Dass das individuelle deutschen Asylgrundrecht ein gemeinsames europäisches Asyl verhindere: Etwas mehr Recherche vor diesen Auslassungen hätte ihn belehrt, dass dieser Artikel, der vor mehr als 25 Jahren heiß umkämpft war – damals war der Sauerländer ein schwarzer junger Wilder –, keinerlei praktische Bedeutung mehr für die heutige Asyl- und Migrationspolitik hat. Deutschland ist in eine Fülle von internationalen und europäischen Abkommen eingewoben, die seine Verpflichtungen speziell Flüchtlingen gegenüber regeln – die Genfer Flüchtlingskonvention ist nur ein Beispiel - so dass selbst eine Abschaffung des Grundgesetzartikels wirkungslos bliebe.
Insofern sind auch die, die jetzt als Merz' Kritiker auf den Plan treten, entweder in der Sache ahnungslos oder gehen ihm mindestens rhetorisch auf den Leim. Ja, man sollte Artikel 16 des Grundgesetzes verteidigen, als großartiges Stück Konsequenz, das die Väter und wenigen Mütter der Verfassung aus der Vertreibung jüdischer und demokratischer Deutscher aus Deutschland unter dem Nazi-Terror gezogen haben.
Praktisch haben aber andere Regeln inzwischen mehr Bedeutung. Und die pathetischen Angriffe auf Merz - "demokratischen Grundkonsens verlassen" - sind ebenso altbacken wie Merz' Phrasenservice für die sozialnostalgischen Teile der christdemokratischen Basis. Sofern sie von der SPD kommen, noch dazu heuchlerisch, erlaubten doch deren Stimmen 1992 erst, den berühmten Artikel zu schleifen.
Die Rhetorik der Rechten
Was Merz' da sagt, verdient also nicht in erster Linie moralische Verurteilung, erst recht nicht in Zeiten, da Moral unter dem Dauerbeschuss einer erstarkenden Rechten täglich mehr Boden verliert und "Gutmensch" als Schimpfwort fest lexikalisiert ist. Merz gehört widerlegt. Dafür gäbe es in diesem Land ausreichend verfügbaren Sachverstand, ein Anruf bei Migrationsfachleuten in der deutschen Justiz oder Rechtswissenschaft hätte genügt. Merz redet einfach Unsinn oder, um es mit Angela Merkel etwas feiner auszudrücken, jener Frau, die seit 15 Jahren anscheinend der allnächtliche Alb ihres Vorgängers als Fraktionschef ist: Was er behauptet, ist "das Gegenteil von richtig".
Wobei natürlich denkbar ist, dass Merz in Wirklichkeit seinen Parteifreundinnen wie seinen Gegnern in einer Weise voraus ist, für die man ihn auch bewundern könnte. Hat er womöglich von denen gelernt, denen er das Wasser abzugraben verspricht, wenn man ihn nur an die Parteispitze wählt? Wenn es einen großen und schrecklichen Erfolg der Rechten gibt, von Trump über Salvini bis Orban und Weidel, dann den, dass sie politische Rhetorik völlig von der Realität gelöst haben.
Der demokratischen Theorie nach und in einer guten alten Zeit konnte das politische Personal lügen oder Fakten schlicht ignorieren, es musste dafür aber Strafe fürchten: Entweder von politischen Gegnerinnen und professionellen Kritikern - Medien oder Fachleuten - überführt zu werden und so Lächerlichkeit zu riskieren. Oder via "Produktenttäuschung" an der Wahlurne, wenn das Wahlvolk, das sich auf Wahlversprechen verlassen hatte, später sauer quittierte, wenn die gebrochen wurden.
Das alles stimmt nicht mehr, es genügt inzwischen, sich "richtig" zu bekennen: Dass man Migration verhindern wird, Homosexualität schlimm findet und abschaffen und die hohe Scheidungsquote drücken wird. Ist zwar alles unmöglich - und gut möglich, dass das begeisterte Publikum das selbst weiß - aber doch schön, dass es einer mal gefordert und ein Bild einer Welt gemalt hat, wie man sie gern hätte. Da wundert es auch wenig, dass Merz am Nachmittag via Twitter zurückruderte und beteuerte, er stelle das Grundrecht auf Asyl "selbstverständlich" nicht in Frage. Da hatte er das Thema schon gesetzt, die AfD ihm schon applaudiert. Die Rechte hat Bullshit zu einem beängstigenden Faktor der Politik gemacht. Ist es das, worauf nun auch ein im Verfassungsbogen eingetragener christdemokratischer Kandidat setzt?
Nach der ersten Frau ein Mann von gestern?
Merz' frühere Auslassungen sprechen freilich dagegen, dass er so zynisch kalkuliert. Der Mann, der seine Niederlage gegen Angela Merkel um den Fraktionsvorsitz vor 15 Jahren bis heute nicht nur nicht verdaut, sondern deren objektive Gründe auch immer noch nicht verstanden zu haben scheint, wirkt eher, als sei er damals in den politischen Winterschlaf gesunken und erst mit Merkels Rücktrittsankündigung wieder aufgewacht. Das ist seinen Äußerungen zum Asyl anzumerken, das galt aber auch schon für seine ersten Sätze nach dem Aufwachen.
Will die CDU wirklich einen Parteichef, der sich gleich zum Start seiner Kandidatur auf den Bierdeckel-Parteitag von Leipzig anno domini 2003 bezieht? Die Erde hat sich seitdem ein paarmal um die Sonne gedreht, aber Merz hat in seinem Schmollwinkel anscheinend die ganze Zeit die Hände vor den Augen gehabt. Und will sie anscheinend auch jetzt noch nicht sinken lassen. Die CDU muss wissen, ob sie nach der ersten Frau an einer deutschen Parteispitze nun einen Mann von gestern will.
Andrea Dernbach