Vor der Entscheidung in Straßburg: Wie von der Leyen um die Stimmen im EU-Parlament kämpft
Rücktritt als Verteidigungsministerin, Brief mit Zugeständnissen an EU-Abgeordnete: Ursula von der Leyen tut viel, um das Europaparlament für sich zu gewinnen.
Ursula von der Leyen weiß, dass sie in der vergangenen Woche noch längst nicht alle Abgeordneten in der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament überzeugt hat. Bei einem Treffen mit der Fraktion blieb die 60-Jährige, die an diesem Dienstag im Europaparlament in Straßburg zur EU-Kommissionschefin gewählt werden möchte, noch etliche Antworten schuldig.
Die Verteidigungsministerin schickte einen Brief an die sozialdemokratische Fraktionschefin Garcia Perez. Ob die in dem Schreiben enthaltenen Zusagen – darunter ein offensiveres Vorgehen beim Klimaschutz – ausreichen, um von der Leyen im EU-Parlament über die Hürde zu helfen, blieb aber am Montag vorerst offen.
Wohl auch aus diesem Grund kündigte die CDU-Politikerin am Montag per Twitter an, dass sie unabhängig vom Ausgang des Straßburger Votums am Mittwoch als Verteidigungsministerin zurücktreten werde. Ihre Ankündigung, Europa „meine volle Kraft“ zu widmen, könnte im Fall eines Scheiterns am Dienstag auch darauf hinauslaufen, dass von der Leyen als EU-Kommissarin die Nachfolge des Deutschen Günther Oettinger antritt.
Lob für "ehrliche Debatte"
Bei dem am Dienstagabend geplanten Votum dürften indes die Stimmen der Sozialdemokraten ausschlaggebend sein, weil von der Leyen allein mit der Unterstützung der konservativen EVP-Fraktion und der liberalen Fraktion „Renew Europe“ nicht die nötige Mehrheit von 374 der 747 Abgeordneten erreichen kann. Um eine möglichst große Zahl von Sozialdemokraten noch auf ihre Seite zu ziehen, versuchte sich von der Leyen in ihrem Schreiben an die S&D-Fraktion in einer Charme-Offensive. Den Gedankenaustausch von der vergangenen Woche lobte sie als „ehrliche, offene und konstruktive Debatte“. Als Kommissionschefin werde ihre oberste Priorität darin bestehen, aus Europa bis 2050 den ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Sie wolle zu diesem Zweck innerhalb ihrer ersten 100 Amtstage Gesetzgebungsvorschläge vorlegen, kündigte die Berliner Ministerin an. Bis zum Jahr 2030 soll es nach ihren Vorstellungen nun einen Rückgang der Treibhausgas-Emissionen um 55 Prozent geben.
Augenmerk auf Rechtsstaatlichkeit
Ein besonderes Augenmerk dürften die Sozialdemokraten auch jenem Passus in dem Schreiben widmen, in dem von der Leyen sich mit der Rechtsstaatlichkeit in der EU beschäftigt. „Es kann keinen Kompromiss geben, wenn es um unsere Grundwerte geht“, schrieb sie. Sie unterstütze einen zusätzlichen Rechtsstaatsmechanismus, dem zufolge in jährlichen Berichten die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten bewertet werden soll. Dabei wolle sie sicherstellen, dass dem Europaparlament eine größere Rolle als bisher zukomme. Mit der Ankündigung möchte von der Leyen offenbar dem Vorwurf begegnen, sie wolle bei der Bewertung von Problem-Ländern wie Polen oder Ungarn weichere Kriterien anlegen als der derzeitige EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans. Der Niederländer war wie der CSU-Vize Manfred Weber bei der Europawahl als Spitzenkandidat seiner Parteienfamilie angetreten. Allerdings hatten weder Weber noch Timmermans im Europaparlament eine Mehrheit hinter sich vereinen können. Damit hatte das Europaparlament dem Rat der Staats- und Regierungschefs das Feld überlassen, die wiederum am Ende überraschend von der Leyen für die Nachfolge des derzeitigen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker vorgeschlagen hatten.
Von der Leyen will Spitzenkandidaten-System "verbessern"
In ihrem Schreiben an die sozialdemokratische Fraktionschefin Perez ging von der Leyen auf das verunglückte Spitzenkandidaten-Prozedere ein, der nun auch ihre Wahl in Straßburg zur Zitterpartie werden lässt. In erster Linie haben im Lager der Sozialdemokraten die 16 deutschen SPD-Abgeordneten angekündigt, von der Leyen nicht mitzuwählen. Unter den insgesamt 153 S&D-Abgeordneten gibt es nach Angaben aus dem Europaparlament aber auch bei den Parlamentariern aus Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und Malta Widerstand gegen eine Wahl von der Leyens. Die Bewerberin aus Deutschland räumte in ihrem Brief an Perez nun ein, dass sie bei ihren Treffen mit den Europaabgeordneten mehrerer Fraktionen zu spüren bekommen habe, dass es unter den Parlamentariern eine „greifbare Frustration“ über die Besetzung der EU-Spitzenposten gebe. „Wir sollten das Spitzenkandidaten-System verbessern und ihm bei einer breiteren Wählerschaft mehr Sichtbarkeit verschaffen“, schrieb von der Leyen.
Zu diesem Zweck solle auch über transnationale Listen gesprochen werden, schlug von der Leyen vor. Allerdings sind transnationale Listen, wie sie auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorschlägt, kein neues Thema für das Europaparlament. Die EVP-Fraktion lehnte deren Einführung wegen der Bürgerferne ab. Unterdessen hatte der ausgebootete EVP-Spitzenkandidat Weber in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vorgeschlagen, das Spitzenkandidaten-Prinzip für die europäische Ebene in einem Rechtsakt zu verankern, „der allgemein anerkannt und verbindlich ist“.
Unterstützung durch Kommissions-Generalsekretär Selmayr
Dass von der Leyen bei vielen EU-Parlamentariern auf Skepsis stößt, könnte derweil noch einen anderen Grund haben: Zu ihren Unterstützern in Brüssel und Straßburg gehört auch der Generalsekretär der EU-Kommission, Martin Selmayr. Der Deutsche Selmayr, der zuvor Junckers Kabinettschef gewesen war, gelangte im März 2018 dank einer Blitzbeförderung auf seinen Posten. Mit der umstrittenen Beförderung befasste sich auch das Europaparlament seinerzeit eingehend. Aber auch diese Klippe versuchte von der Leyen zu umschiffen. Am Montagabend hieß es aus der EVP-Fraktion, dass von der Leyen dort am Vorabend der Wahl gesagt habe, es könnten nicht zwei Vertreter derselben Nation an der Spitze einer EU-Institution stehen. Von der Leyen erwähnte den Namen Selmayrs zwar nicht. Dennoch verstand nach Teilnehmerangaben jeder, dass die bisherige Verteidigungsministerin im Amt der Kommissionschefin am derzeitigen Generalsekretär der Brüsseler Behörde nicht festhalten will.