Wenn die Wunschkoalition ausbleibt: Von der Leyen darf sich auch von Populisten wählen lassen
„Pfui-bäh“ ruft die SPD für den Fall, dass von der Leyen auch mit linken und rechten Stimmen gewählt wird. Das ist der falsche Reflex. Ein Kommentar.
Es ist denkbar, dass Ursula von der Leyen die Wahl zur Kommissionspräsidentin der EU am Dienstag verpasst. Wahrscheinlicher ist, dass sie von einer Koalition gewählt wird, über die Europas Moralhüter die Nase rümpfen: mithilfe von Rechts- und Linkspopulisten aus Ostmitteleuropa und Italien. Wenn es so kommt, müssen die Mäkler die Verantwortung auch bei sich selbst suchen.
Warum ist die Wunschkoalition – eine absolute Mehrheit aus den vier proeuropäischen Parteifamilien nahe der Mitte im Europaparlament: Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – fraglich? Weil diese Parteien zwar im Wahlkampf behaupteten, ihr wichtigstes Ziel sei, einen Machtzuwachs der Populisten zu verhindern. Als aber ausgezählt war und es ans Verteilen der Macht ging, war ihnen das Parteiinteresse näher als die europäischen Werte.
Die Grünen kann man am ehesten verstehen. Sie wollten einen Spitzenkandidaten und mehr Klimaschutz. Dennoch, mit dem blassen Manfred Weber waren sie so gut wie einig, mit von der Leyen nicht? Das wirkt paradox. Die Liberalen pokern um mehr Epauletten, obwohl von der Leyen ein Vorschlag ihrer Galionsfigur Emmanuel Macron war.
Die Sozialdemokraten sind gespalten: Italiener, Polen, Portugiesen, Rumänen und Spanier wollen von der Leyen wählen. Die SPD-Abgeordneten agitieren gegen die Deutsche, obwohl ihre Partei in Berlin mit ihr regiert. Das ist schäbig.
Die SPD ist realitätsfremd
Wer die Wunschkoalition verweigert, darf nicht aufheulen, wenn sich ein anderes Bündnis findet. Europa muss handlungsfähig sein in der bedrohlichen Weltlage. Dafür müssen Kräfte kooperieren, die im Rat der Regierungschefs und im Parlament Mehrheiten stellen. Die Zeiten, in denen Berlin und Paris im Rat die Richtung vorgaben sowie Christdemokraten und Sozialdemokraten im Parlament, sind vorbei. Es kommt auf die jungen EU-Mitglieder im Osten an, auch wenn man sie lieber auf Abstand hielte.
Die SPD fordert, von der Leyen dürfe sich nicht mithilfe von Populisten wählen lassen. Das ist realitätsfremd. Und undemokratisch. Man muss die Regierungen in Budapest, Warschau, Bukarest und Rom nicht mögen. Sie sind aber aus freien Wahlen hervorgegangen. Ärger gibt es mit wenigen: Polen, Rumänien, Ungarn.
Gute Kooperation mit der Mehrzahl: Estland, Lettland, Litauen, Slowakei, Tschechien, Slowenien, Kroatien. In vielen Bereichen unterstützen ihre zumeist konservativen Regierungschefs die Bundesregierung: liberale Handelsregeln, stabiler Euro, oft auch Ziele in der Außenpolitik. Ein breites Bündnis steht bereit, um Dinge voranzubringen. Und ohne den wachsenden Handel mit den Nachbarn im Osten ginge es Deutschland ökonomisch nicht so gut. Warum ist der Wille in Berlin, dieses Potenzial für die EU zu nutzen, so gering?
Jede Krise bietet Chancen. Die „Pfui-bäh“-Rufe der SPD sind der falsche Reflex. Wird von der Leyen gewählt, eröffnet die Ad-hoc-Koalition die Gelegenheit, zu prüfen, ob sich der Streit um Rechtsstaat und Medienfreiheit mit Polen und Ungarn lösen lässt.
Nicht durch die Aufgabe europäischer Werte, sondern durch eine Anwendung, die nicht Abwehr produziert. Falls Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski sich gutem Willen verweigern, kann Frans Timmermans als erster Kommissionsvize die Druckmittel wieder herausholen. Also: Warum nicht erst mal ausloten, was mit der Ost-Koalition möglich ist?