Die versteckte Richtungswahl: Wie viel Staat soll es denn sein?
Die Ziele von SPD, CDU, FDP und Grünen ähneln sich, aber nicht die Wege dorthin. Die bergen Konfliktlinien, die für Koalitionen essentiell werden. Ein Essay.
Zu viele Nebensächlichkeiten, zu wenig Wichtiges – das hörte man oft als Beschreibung des Bundestagswahlkampfes 2021. Doch der Eindruck ist falsch. Dieser Wahlkampf war kein bisschen inhaltsleer. Zwar haben sich die vier Parteien mit Machtoption, also SPD, CDU, Grüne und FDP, tatsächlich noch einmal angenähert, aber unter der Oberfläche der Gleichheit der Ziele – Klimaschutz, Digitalisierung, Verwaltungsreform, eine souveränes Europa – verbergen sich alte Konfliktlinien, die in den Koalitionsverhandlungen, aber auch in den nächsten Jahren so bestimmend sein werden wie lange nicht.
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Wenn viele Politiker selbst sagen, man unterscheide sich vor allem im „Wie“, klingt das erstmal klein, doch gerade im „Wie“ verbergen sich gewaltige Unterschiede zwischen den Parteien. Es geht um ihr Staatsverständnis. Im „Wie“ zeigen sich völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, was und wer „der Staat“ eigentlich ist, was er leisten kann und soll. Eng damit verbunden sind Fragen der Gerechtigkeit und der individuellen Freiheit und Beteiligung. Es geht nicht „nur“ um Unterschiede in der Methode. Die Methode ist der Unterschied. Darum ist diese Wahl eine Richtungswahl.
Am 26. August hatte die ZDF-Talkerin Maybrit Illner den CDU-Politiker Friedrich Merz und den Grünen-Co-Chef Robert Habeck zu Gast. Die Sendung war vor allem geprägt von der demonstrativ zur Schau getragenen gegenseitigen Abneigung der beiden Herren. Doch als das Gespräch auf die Finanzierung der Klimawende kam, wurde es erhellend. s ging um die Frage, ob die Schuldenbremse ausgesetzt werden könnte und sollte, um in den Klimaschutz zu investieren.
„Wir müssen den Umbau der Wirtschaft, die Art, wie wir wohnen, wie wir uns fortbewegen, finanzieren. Entweder jeder für sich, jedes Unternehmen für sich, oder wir nutzen die Kraft der Solidarität (…)“, sagte Habeck. Deutschland, also „der Staat“, so Habeck, habe an den Märkten eine gute Bonität „und der Staat, das sind ja letztlich wir alle (…) das sind wir“. So könne Wachstum entstehen, so würde „der Staat“ letztlich Arbeitsplätze schaffen.
Sechs Jahre, um ein Windrad zu genehmigen
„Der Staat schafft überhaupt keine Arbeitsplätze“, antwortete Merz. „Der Staat hat einen Beamtenapparat, der immer größer wird, eine Bürokratie, die immer schwerfälliger wird. Die Arbeitsplätze werden in der Privatwirtschaft geschaffen.“ Investitionen würden in Deutschland vor allem deshalb fehlen, fuhr Merz fort, weil deutsche Verwaltungen sechs Jahre brauchen, um ein Windrad zu genehmigen.
Sind „wir“ der Staat, wie Habeck sagt? Oder ist „der Staat“ vor allem ein Apparat, der ein Eigenleben führt und dabei der Wirtschaft, den Bürgern, der Innovation, dem Klimaschutz im Weg herumsteht, wie Merz es andeutet? Braucht die Klimawende mehr oder weniger Staat? Zwei Lager stehen sich gegenüber: Es geht, stark vereinfacht, um Dirigismus versus Marktwirtschaft.
Das Lager, zu dem viele Grüne, aber auch Olaf Scholz von der SPD gehören, hält marktwirtschaftliche Instrumente allein für unzureichend, um dem Klimawandel zu begegnen, ebenso wie der Herausforderung, Wohnen günstiger zu machen und Löhne auskömmlich.
Habeck formuliert das am deutlichsten. In seinem Buch „Von hier an anders“ skizziert er einen Staat, der das zentrale Instrument in der Hand der Bürgerinnen und Bürger ist, um die Welt zu ändern. Er bezieht sich dabei auf Max Weber. Für Weber waren Staat und Politik eins. Keine Politik ohne Staat, ohne Institutionen. Habeck übernimmt das. Er sieht den Staat als Mittel, den globalen Kapitalismus und seine Folgen, unter anderem für das Klima, zu bändigen. In dieser Vorstellung ist die Regierung der Geschäftsführer eines gesellschaftlichen „Wir“, der Funktionär der Solidargemeinschaft der Bürger. Er sorgt dafür, dass die zunächst hypothetische Macht der Vielen auch tatsächlich Momentum erzeugt.
Dazu passend fordert das Parteiprogramm der Grünen eine Pflicht für Solardächer auf neuen Häusern, einen früheren Kohleausstieg und ein gesetzlich geregeltes Ende der Produktion von Verbrennungsmotoren. Der CO2-Preis soll steigen - bei sozialem (staatlichem) Ausgleich durch ein Bürgerenergiegeld. Inhaltlich würden sie dafür in Olaf Scholz vermutlich einen Verbündeten finden. Was die „Methodik“ angeht, sind Scholz und die SPD zurückhaltender, ist ihr Parteiprogramm in der Klimapolitik weit vager, darin steht eine „direkte Investitionsförderung“ und gesetzliche Regelungen.
Die SPD-Linke hat ein "Mietenmoratorium" ins Programm hineinverhandelt
Doch auch bei Scholz ist eine starke Marktskepsis und das Bemühen um einen erneuerten staatlichen Gestaltungsanspruch gegenüber den globalen Märkten erkennen. Den Mindestlohn verteidigt er leidenschaftlich, mittlerweile auch das „Mietenmoratorium“, also den Mietendeckel auf Bundesebene, den die Parteilinke ins SPD-Programm hineinverhandelt hat.
Der Wahlsieg von Joe Biden ermöglichte ihm eine neue Allianz in diesem Sinne über den Atlantik hinweg. Auch unter Joe Biden gibt es den erklärten Willen, staatliche Hoheit über marktwirtschaftliche Entwicklungen da zurückzuerlangen, wo sie in den vergangenen Jahrzehnten entglitten ist. Dazu zählen die Regulierung der „Plattformökonomie“, also von Google, Apple, Amazon und anderen, und eine globale Mindeststeuer, auf die Scholz jahrelang hingearbeitet und die während des deutschen Wahlkampfes von den G 7 und den G 20 verabredet wurde.
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Dem gegenüber steht vor allem bei der FDP, aber auch bei Wirtschaftsliberalen in der Union wie Friedrich Merz, das Bild vom „Staat“ und seiner Bürokratie als Verhinderer, als Antagonist der Bürger und der Wirtschaft. In dieser Sichtweise ist der Staat mitnichten identisch mit dem gesellschaftlichen „Wir“, sondern eine von der Gesellschaft getrennte Einheit, legitim nur da, wo er tatsächlich notwendig ist, und deshalb zu begrenzen.
Nicht der Staat ist die Politik. Sondern die Politik schafft, nutzt und begrenzt den Staat. Bei den Anhängern dieser Sichtweise findet sich teils eine starke, ungeduldige Ablehnung von Staat. Am 13. Juli etwa beging die FDP auf Twitter den „Steuerzahlergedenktag“. Marco Buschmann, der als zukünftiger FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag gehandelt wird, schrieb: „Bis heute haben die Deutschen rechnerisch nur für den Staat gearbeitet. Sie arbeiten damit über ein halbes Jahr, ehe aus brutto netto wird.“
„Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Und Lukas Köhler, der klimapolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, zitierte am 24. September auf Twitter mit Blick auf ein Enddatum für den Verbrennungsmotor und den Kohleausstieg den Erfinder der Gewaltenteilung, den Philosophen Montesquieu: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Der Staat ist also nicht nur nicht das „Wir“, er arbeitet auch nicht für das „Wir“, er arbeitet in dieser Vorstellung für sich selbst.
Das sieht – vielleicht auch aus Wahlkampfgründen – etwas radikaler aus, als es ist. Tatsächlich haben auch in der FDP wieder sozialliberale Köpfe wie Johannes Vogel an Einfluss gewonnen, das Wahlprogramm selbst enthält durchaus „dirigistische“ Elemente. Ein Beispiel ist die „Klimadividende“: Damit die Bürgerinnen und Bürger nicht zu stark von den steigenden CO2-Kosten betroffen sind, soll die Stromsteuer sinken. Die Bürger sollen außerdem eine „Klimadividende“ erhalten, die dem grünen „Energiegeld“ ziemlich ähnlich sieht.
Der Faktor Zeit tritt hinzu
Dieses Gegenüber von dirigistischem und marktliberalem Denken ist natürlich nicht neu, gewinnt aber mit der Debatte um das „Wie“ des Klimaschutzes eine neue Brisanz und Schärfe. Der Faktor Zeit tritt hinzu. Um das 1,5-Grad-Ziel und selbst eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf zwei Grad noch zu schaffen, da sind sich die Experten einig, muss sehr schnell gehandelt werdet. Es bleibt kaum Zeit, Instrumente zu testen. Zugleich erzeugen beide Vorstellungen vom „Staat“, die dirigistische ebenso wie die marktwirtschaftliche, Selbstbestimmungs- und Gerechtigkeitsillusionen, die sie nicht einlösen können.
Habecks Staatsverständnis, in dem Verwaltungen den Willen des „Wir“ exekutieren, ist über- idealistisch. Schon Max Weber wies darauf hin, dass Verwaltungen ein Eigenleben entwickeln können, dass sie durch ihre „arbeitsteilige Fachspezialisierung“ unbeherrschbar und quasi unersetzlich werden können in ihrem „festen Eingestelltsein auf gewohnte und virtuos beherrschte Einzelfunktionen in planvoller Synthese“. Habecks Buch räumt das mit Verweis auf Weber auch ein, wischt es aber weg, ohne das länger zu diskutieren.
"Der Staat" bildet "das Wir" nicht vollständig ab
Auch heute können Verwaltungen Politik entmachten – durch ihr Arbeitstempo, Ebenenkämpfe, Rechtsexpertisen. Sie haben ihre eigenen Logiken, die eben nicht unbedingt dazu führen müssen, dass sie Gemeingüter besser und stärker im Sinne des Gemeinwohls verwalten.
Die zweite Illusion in diesem Staatsverständnis ist es, dass „der Staat“ das „Wir“ vollständig abbilde. Das tut er nicht. Repräsentiert in einer Regierung ist eben immer nur die Mehrheit derjenigen, die die Wahl gewonnen haben. Ein Teil der Bürger, nicht nur die „Wahlverlierer“, wird durch staatliche Entscheidungen immer frustriert, in ihren individuellen Interessen beschnitten. Und je mehr der Staat dirigiert, in je mehr Lebensbereiche er eingreift, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Staat ein Akzeptanzproblem bekommt bei eben jenem Teil des „Wir“, das sich übergangen fühlt.
Aber auch die Vertreter des marktwirtschaftlichen Modells erzeugen Selbstbestimmungs- und Gerechtigkeitsillusionen. Denn die „bürokratische Ordnungen“, die Merz und Lindner als Hindernisse für Innovation, Wirtschaft und die bürgerliche Freiheit sehen, gibt es eben auch in Privatunternehmen (auch darauf hat Max Weber schon hingewiesen). Auch von Privatunternehmen können Menschen, ja ganze Gesellschaften strukturell abhängig werden und sind dann auf das korrekte Funktionieren der „Bürokratie“ dieser Unternehmen angewiesen.
Ein Beispiel sind die Giganten der Plattformökonomie, an die Facebooks, Apples und Amazons. Aber auch die meisten Infrastrukturen und Industrien, die für die Einhaltung der Klimaziele zentral sind, sind in Deutschland in privater Hand.
Kann man sich darauf verlassen, dass die „Bürokratie“ der Stahlindustrie ein Einsehen hat und Stahl grün herstellt? Wie vermeidet man erneute Netzwerkeffekte, die zu Monopolbildungen wie bei den Internetgiganten führen? Tesla etwa hat schon Schnellladestationen für E-Autos gebaut, die manchen Modellen in fünf Minuten 120 Kilometer Reichweite verschaffen. Bislang allerdings können da auch nur Teslas tanken. Ob andere Modelle dort auch laden können entscheidet - Elon Musk. Mit der Verbrauchermacht des einzelnen Bürgers ist es da nicht weit her.
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Der wirtschaftliche und politische Erfolg Deutschlands – auch seine Stabilität – beruhte darauf, dass meist eine halbwegs sinnstiftende Mitte zwischen einem dirigistischen und einem marktliberalen Staatsverständnis gefunden wurde. Nach dieser Wahl wird die Mischung völlig neu verhandelt. Es ist eine Richtungswahl.
Die politische Glaubensfrage, die sich die Deutschen stellen müssen, ist: Wie sehen wir uns, und wie verstehen wir „den Staat“? Sehen wir uns als eher als Individualisten, die ihre Macht in ihrer Rolle als Verbraucher einsetzen, im Vertrauen auf den Ideenreichtum und die Innovationskraft freier Märkte? Oder wollen wir mehr Staat, das Momentum des Kollektivs nutzen – zu dem Preis, dass einige unsere Individualinteressen womöglich weniger berücksichtigt werden? Wir haben die Wahl.
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