Ordnungspolitik neu gedacht: Nur ein starker Staat kann den Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern
Durch technologischen Wandel und Globalisierung droht mehr Marktversagen - der Staat muss stärker und unabhängiger ordnen als zuvor. Ein Gastbeitrag.
Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.
Nicht wenige Menschen werfen dem Staat und seinen Institutionen in der Pandemie Versagen vor. Auch wenn Politik und Institutionen Fehler gemacht und strukturelle Schwächen offenbart haben: Diese Kritik ist fehlgeleitet. Denn kaum ein anderes Land hat die Pandemie mit Blick auf den Schutz von Menschenleben, Gesundheit, Wirtschaft und Grundrechten so erfolgreich gemeistert wie Deutschland – dank eines starken Sozialstaats und guter staatlicher Institutionen.
Die richtige Lehre aus der Pandemie sollte daher nicht die Schwächung des Staates sein, sondern eine grundlegende Reform seiner Institutionen und Regeln, so dass eine neue, moderne Ordnungspolitik entstehen kann.
Ludwig Erhard hat seine Vision der Ordnungspolitik mit einem Fußballspiel verglichen: Die Mannschaften sind die Marktteilnehmer, und der Staat ist der Schiedsrichter, der die Einhaltung der Regeln sicherstellt, aber nicht selbst mitspielen darf.
Die Kritiker*innen in der Pandemie monieren, der Staat würde immer mehr zum Spieler, zum „Unternehmerstaat“, der seine Rolle überschreite und damit selbst zur Ursache von Marktversagen geworden sei. Das ist jedoch falsch. Die großen Krisen der vergangenen 30 Jahren wurden verursacht oder verstärkt, weil der Staat zu häufig die Rolle des Schiedsrichters vernachlässigt und die Regelsetzung und die Kontrolle der Regeln an private Unternehmen verloren hat.
Der Staat war nicht unparteiisch genug
Ein mahnendes Beispiel ist die globale Finanzkrise von 2008/09, die ihren Ursprung im neoliberalen Dogma hatte, die Banken wüssten am besten, wie sie sich selbst zu regulieren hätten. Wir kennen heute das Resultat dieses Dogmas: Finanzinstitutionen veränderten oder interpretierten die Regeln so, dass sie enorme Risiken eingingen und Profite privatisierten konnten, Staat und Gesellschaft jedoch für Risiken und Verluste aufkommen mussten.
Wenn man dem Staat etwas vorwerfen kann, dann nicht, dass er selbst zum Spieler der Marktwirtschaft geworden ist, sondern dass er seine Rolle als Schiedsrichter nicht oder nicht unparteiisch genug erfüllt.
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So hat Deutschland mit über 20 Prozent einen der größten Niedriglohnsektoren Europas, weil die dort Beschäftigten ohne Tarifvertrag nicht auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern verhandeln können oder der Mindestlohn missbraucht wird. Die Bildungschancen sind in Deutschland sehr ungleich verteilt: 70 Prozent der Akademikerkinder gehen zur Universität, aber nur 20 Prozent der Kinder von Nicht-Akademiker*innen. Es ist letztlich ein „Marktversagen“, wenn Menschen nicht die gleichen Chancen haben.
Die Erfahrung der Pandemie zeigt: Der drohende Zusammenbruch der Wirtschaft kann nur durch einen starken Staat verhindert werden. Selbst die größten deutschen Unternehmen waren auf öffentliche Gelder angewiesen. Ohne das staatliche Kurzarbeitergeld wären Millionen Menschen arbeitslos geworden. Ohne die massiven Wirtschaftshilfen wären Tausende von Unternehmen pleite gegangen. Ohne ein größtenteils staatlich finanziertes Gesundheitssystem hätten nicht Tausende von Menschenleben gerettet werden können.
Auch Biontech profitiert von staatlichen Vorleistungen
Dennoch haben die KritikerInnen mit manchen ihrer Punkte Recht: Der Staat hat Fehler gemacht und Schwächen offenbart. Die Schließung von Schulen ohne adäquaten digitalen Ersatz, zu geringe oder schleppende Hilfen für Familien, Soloselbstständige oder Minijobber*innen und eine unzureichende Strategie zur Begrenzung der Pandemie sind schmerzvolle Beispiele.
In den meisten Fällen hätten aber auch private Unternehmen diese Probleme nicht lösen können. Um den Erfolg privater Unternehmen in der Pandemie zu belegen, wird nicht selten das Beispiel Biontech angeführt. Bei genauerer Betrachtung fällt dieses Argument jedoch in sich zusammen: Viele der wichtigen Patente, die für die Entwicklung des Impfstoffs notwendig waren, gehen auf staatlich finanzierte Grundlagenforschung zurück, an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen und auf direkte staatliche Forschungsförderung. Weltweit verdankt fast jedes große Unternehmen einen erheblichen Teil seines Erfolgs direkter oder indirekter staatlicher Unterstützung. Dies gilt selbst für Innovatoren wie Tesla, die von staatlich finanzierten Patenten und Subventionen massiv profitieren.
Was für einzelne Unternehmen gilt, gilt auch für ganze Volkswirtschaften: Die Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson zeigen in „Wieso Nationen scheitern“, dass staatliche Institutionen der entscheidende Faktor für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erfolg von Nationen sind. In Deutschland waren und sind vor allem exzellente staatliche Institutionen und der Rechtsstaat, der das „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hat.
Drei Gründe für mehr staatliche Einmischung in die Marktwirtschaft
Es gibt drei zentrale Gründe, wieso sich der Staat in Zukunft nicht weniger, sondern stärker in das Marktgeschehen einmischen muss: Erstens der technologische Wandel, da neue Technologien zunehmend zu Monopolen und einer Marktkonzentration führen, und damit zu fehlendem Wettbewerb, geringerer Innovation und Monopolrenten. Um Marktversagen zu verhindern, muss der Staat solche Unternehmen stärker regulieren und notfalls auch zerschlagen.
Der zweite Grund ist die steigende Bedeutung globaler Kapitalmärkte und die damit verbundene Konzentration von Risiken, bei denen ein Scheitern selbst kleinerer Finanzinstitutionen – der Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 ist ein warnendes Beispiel – ganze Volkswirtschaften in eine Krise stürzen kann. Staatliche Institutionen und Zentralbanken dürfen diese Fehler nicht wiederholen und müssen zum Beispiel private Währungen wie den Bitcoin sehr viel stärker regulieren und eigene digitale Währungen entwickeln.
Dritter Grund für eine stärkere staatliche Rolle ist die zunehmende Globalisierung und die damit verbundene Machtverschiebung von staatlichen Institutionen hin zu multinationalen Unternehmen. Seit Jahrzehnten spielen große Unternehmen Staaten gegeneinander aus und haben einen Steuerwettbewerb ausgelöst, bei dem Unternehmenssteuern gesenkt und Steuern für Beschäftigte erhöht werden. Die kürzlich von den G20 beschlossene globale Mindeststeuer für Unternehmen von 15 Prozent ist ein erster, kleiner Schritt, um eine funktionierende Marktwirtschaft wieder gewährleisten zu können.
Deutschlands gute staatliche Institutionen und der starke Sozialstaat bilden die Grundlage für unseren Wohlstand und die erfolgreiche Bewältigung der Pandemie. Eine Modernisierung staatlicher Institutionen – von Bürokratieabbau und effizienteren Prozessen, über eine stärkere Neutralität und Autonomie von Lobbyinteressen, bis hin zur Digitalisierung öffentlicher Dienste – muss eine dringende Priorität sein. Genauso wichtig ist es jedoch, dass der Staat sich nicht zurückzieht, sondern stärker in Marktprozesse einmischt; nicht, weil er der bessere Unternehmer wäre, sondern um Marktversagen zu vermeiden, das durch den technologischen Wandel, die zunehmende Bedeutung von Kapitalmärkten und der Globalisierung mehr denn je droht.
Marcel Fratzscher
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