Atomkraftwerke: Wie sicher ist der Atomausstieg ?
Vor fünf Jahren hat sich in Fukushima in drei Atomkraftwerken eine Kernschmelze ereignet. Vor fast 30 Jahren explodierte das Atomkraftwerk in Tschernobyl. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir einen Text über die Sicherheit in deutschen Atomkraftwerken, der im gedruckten Tagespiegel am 14. Juni 2015 erschienen ist.
Als die Endlagerkommission in Juni 2015 zum ersten Mal die Öffentlichkeit nach Berlin einlud, ging in Grafenrheinfeld das Licht aus. Eon legte das bayerische Atomkraftwerk am 20. Juni still, ein knappes halbes Jahr vor dem gesetzlich festgelegten Abschalttermin. Aber acht Atomkraftwerke in Deutschland laufen weiter: Drei bis 2022, drei gehen ein Jahr früher vom Netz und jeweils eines 2017 und 2019.
Bei höchstens sieben Jahren Laufzeit stellt sich für Betreiber und Aufsichtsbehörden bei jeder Investition die Frage: Lohnt sich das noch? Beziehungsweise: Ist es verhältnismäßig, diese Nachrüstung noch zu verlangen? Zwar sagen alle, dass die „notwendigen Sicherheitsinvestitionen“ getätigt werden. Sicherheit sei nicht verhandelbar. Eon-Kernkraftsprecherin Petra Uhlmann (Anmerkung der Redaktion: Inzwischen hat Petra Uhlmann das Unternehmen verlassen, das inzwischen Preussen-Elektra heißt). hat auch ein Beispiel für diese These parat: „Wir haben in Grafenrheinfeld in den vergangenen drei Jahren mehr investiert als in den Jahren zuvor.“ In Grafenrheinfeld waren für die Kühlung der Computertechnik wegen neuer Umweltauflagen neue Kühlmaschinen fällig. Da sei ein „zweistelliger
Millionenbetrag“ investiert worden, sagt sie.
Welche Nachrüstung ist notwendig?
Aber was „notwendig“ genau heißt, könne von Betreibern und Aufsichtsbehörden schon verschieden gesehen werden, sagt Gerrit Niehaus, der es wissen muss. Er ist seit 2011 Chef der baden-württembergischen Atomaufsicht, war zuvor zehn Jahre in der Atomaufsicht des Bundes tätig und hat zudem Erfahrungen aus der Atomaufsicht in Hessen. Er erinnert sich gut an die Auseinandersetzungen um Modernisierungsauflagen für die zwei Atomkraftwerksblöcke in Biblis, die 2011 nach der Atomkatastrophe in Fukushima stillgelegt worden sind.
„Eigentlich war die Regelung mit den Reststrommengen des ersten Atomausstiegs besser als die festen Abschalttermine“, sagt er. Der Zeitdruck bei der Abwägung zwischen Sicherheitsgewinn und Aufwand wäre geringer. Ein Genehmigungsverfahren für eine aufwendige Sicherheitsinvestition kann mehrere Jahre dauern. Bei sieben Jahren Restlaufzeit ist das zunehmend schwerer zu rechtfertigen. Könnten diese Strommengen in die Zukunft verlagert werden, könnte eine Anlage guten Gewissens einmal ein paar Monate stillstehen, bis alles erledigt ist. Mit den festen Abschaltterminen im Nacken geht das allerdings nur dann, wenn die Begründung einer gerichtlichen Überprüfung standhalten kann. Bis dahin ist die Laufzeit womöglich beendet.
Atomkraftwerke im Stresstest
Nach Fukushima haben die Reaktorsicherheitskommission, die Europäische Union und die Atomaufsichtsbehörden intensiv über den sogenannten Notfallschutz nachgedacht, also die Sicherheitssysteme, die zum Einsatz kommen, wenn die dafür vorgesehenen Systeme versagen. Die Kernschmelzen in Fukushima sind letztlich durch einen profanen Stromausfall ausgelöst worden. Der Stromausfall wiederum war Folge des schweren Erdbebens und des Tsunamis. Aber ein lang dauernder Stromausfall ist auch für deutsche Atomkraftwerke ein mögliches Nofallszenario. Wenn die Stromleitung ausfällt, der erste Notstromdiesel versagt und beim zweiten womöglich der Treibstoff ausgegangen ist, dann sollten die Anlagen immer noch mindestens zehn Stunden lang mit Strom versorgt werden können, verlangten die Sicherheitsexperten. Diese Nachrüstung mit Notstrombatteriesystemen ist auch in allen Anlagen abgeschlossen worden.
In einer sogenannten Weiterleitungsnachricht hat die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) Vorschläge an die Betreiber geschickt, wie die Sicherheit verbessert werden könnte. Nach den europäischen Stresstests zur Sicherheit der Anlagen sind daraus für jedes noch laufende Atomkraftwerk Aktionspläne geworden, über deren Umsetzung jedes Jahr berichtet wird.
Atomexperte Sailer: "Die seltenen Fälle sind problematisch."
Der Chef des Ökoinstituts, Michael Sailer, hat keine Bedenken, wenn er an den „Normalbetrieb“ in einem Atomkraftwerk denkt. Problematisch seien „die seltenen Fälle“. Aber auch der Normalbetrieb ist mit alternden Anlagen und deren oftmals alternden Belegschaften nicht trivial. Wenn beispielsweise ein Schalter im Steuerungssystem kaputt geht - ein Verschleißteil - und es im Lager keine Originalschalter mehr gibt, wird ein solcher Fall schnell zu einer komplizierten Aufgabe. Sailer weist darauf hin, dass es keine Hersteller mehr für Ersatzteile gibt, die „nach deutschen Elektronormen hergestellt werden“. Diese Normen sind längst durch europäische Regelungen überholt, aber die Atomkraftwerke laufen weiter. Die stetige Modernisierung der Anlagen, „die zu einem vergleichsweise hohen Sicherheitsniveau geführt haben“, hätten aber auch dazu geführt, dass sich „die Anlagen verändert“ haben. Wenn nachgerüstete Komponenten nicht oft gebraucht würden, lasse sich manchmal auch nach Jahren noch nicht sicher abschätzen, „wie diese Komponenten das Verhalten der Anlagen verändern“, sagt Sailer.
Ersatzteile brauchen Kreativität
Der Technikchef bei Eon-Kernkraft, Michael Fuchs, sagt deshalb, manchmal seien „kreative Lösungen“ notwendig, wenn ein Ersatzteil nicht mehr verfügbar ist. Manchmal muss es originalgetreu nachgebaut werden, oder es müssen „andere technische Lösungen“ gefunden werden. „Aber wir haben die Leute, die das dann auch können“, versichert er. Sind die Teile tatsächlich originalgetreu nachgebaut, ist nach Einschätzung von Gerrit Niehaus auch kein Zertifizierungsverfahren dafür nötig. Das könnte aber fällig werden, wenn Teile verwendet werden sollen, die für ganz andere Anlagen hergestellt werden.
Die Unternehmen, die die deutschen Atomkraftwerke gebaut haben, gibt es jedenfalls nicht mehr. Die Kraftwerk Union (KWU), eine 1969 gegründete Tochter von AEG und Siemens, später nur noch Siemens, wurde 2001 nach einigen Wirren in das französisch-deutsche Unternehmen Areva eingebracht. Inzwischen ist Areva nur noch französisch und steht kurz davor, vom französischen staatlichen Energiekonzern Electricité de France (EdF) aufgekauft zu werden. Das dürfte nicht nur für die deutschen Atomkraftwerke Folgen haben, wenn Serviceleistungen vom Hersteller gebraucht würden, vermutet Michael Sailer.
Die alten Ingenieure gehen in Rente
Die Ingenieure der Gründungszeit gehen jedenfalls nach und nach in Rente oder sind es schon. Ihre Nachfolger müssen eine „Sicherheitsphilosophie“ verinnerlichen, die überholt ist. Die Anlagendesigns der deutschen Atomkraftwerke stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Der einzige echte Vorteil mit Blick auf die Sicherheit dürfte die analoge Steuerung der Anlagen sein. Denn Hacker haben da keine Chance. Ein Szenario wie im Bundestag ist in den Atomkraftwerken deshalb kaum denkbar. Lediglich im Akw Neckarwestheim I, das nach Fukushima eingemottet wurde, lag ein Antrag auf Digitalisierung der Steuerung vor, der sich dann durch die Abschaltung selbst erledigt hat.
Seit Jahren klagen die Atomverbände darüber, dass sie keinen geeigneten Nachwuchs mehr finden könnten und dass die Ausbildungszahlen dramatisch sinken. Aber bisher hat Eon nach eigenen Angaben keine Probleme, qualifiziertes Personal für die Arbeit in den Atomkraftwerken zu finden. Allerdings ist bei den Anfängern kaum jemand dabei, der Kerntechnik studiert hat. Es sind Maschinenbauer, Ingenieure oder Physiker, die mal mehr, mal weniger aufwendig fortgebildet werden müssten. „Die Mitarbeiter haben es geschafft, eine selbst lernende Organisation am Leben zu halten“, lobt Fuchs. Der Altersschnitt der in den Atomkraftwerken beschäftigten Mitarbeiter bei Eon liege bei 45 Jahren. In der kurzen Zeit, als die damalige schwarz-gelbe Koalition im Bundestag die Laufzeitverlängerung beschlossen hatte, haben die Betreiberkonzerne Eon, EnBW, Vattenfall und RWE zudem noch einmal großzügig Personal eingestellt. Ein Insider sagt: „Wir haben die guten Leute auf der ganzen Welt eingekauft.“ Selbst in der Atomaufsicht, die naturgemäß weniger zahlen kann als die Konzerne, scheint es kaum Probleme zu geben, qualifiziertes Personal zu finden. Seit Niehaus Chef in Stuttgart ist, hatte er mehrfach Stellen zu besetzen, berichtet er. Bewerber hatte er genug. Aber auch in der Atomaufsicht müssen die Leute dann aufwendig weitergebildet werden. In den Prüfinstitutionen wie dem Tüv wiederum beklagen sie, zu wenig Aufträge im Verhältnis zur Zahl ihrer dafür eingestellten Leute zu bekommen. Auch sie klagen derzeit nicht über Nachwuchsmangel. Trotzdem wird der „Kompetenzerhalt“ bei Behörden, Betreibern, Prüforganisationen beständig diskutiert.
Das Personal wird auch für den Rückbau gebraucht
Die Sicherheit spielt nicht nur beim Betrieb der alternden Atomkraftwerke eine wichtige Rolle. Sie ist auch beim Rückbau ein zunehmend heftiger debattiertes Thema. Michael Fuchs sagt mit Blick auf das 2011 vom Netz genommene Atomkraftwerk Unterweser: „Wir wollen den Rückbau machen. Wir haben das dafür nötige Personal mit dem dafür nötigen Wissen.“ Allerdings stellen sich eine Menge noch ungelöster Fragen. Eine davon ist, welche Behälter für das im Bau befindliche Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle Schacht Konrad zugelassen werden. „Wenn sich die Annahmebedingungen ändern, müssen auch die Behälter immer wieder neu entwickelt werden“, sagt Fuchs. Und ein „Rückbau ohne Entsorgung“ sei „ein Problem“.
Die Techniker und die "politische Volatilität"
Mit Blick auf die aktuelle Endlagerdebatte sagt Fuchs: „Als Techniker kommt man der politischen Volatilität nicht hinterher.“ Damit bezieht er sich auch darauf, dass die Atomkraftwerksbetreiber bisher rund 1,6 Milliarden Euro in die Erkundung des umstrittenen Salzstocks in Gorleben gesteckt haben und den Salzstock im Übrigen ohnehin für geeignet halten. Die Zwischenlager an den Standorten, wo derzeit die abgebrannten Brennelemente in Castoren lagern, sind lediglich für 40 Jahre genehmigt. Um das Jahr 2045 herum müssten sie geräumt werden. Ein Endlager wird es bis dahin aber womöglich noch nicht geben. Fuchs spielt aber auch auf die Debatten an, die sich derzeit überall abspielen, wo Atomkonzerne Anträge auf einen Rückbau gestellt haben.
Plötzlich verlangen Bürgerinitiativen einen sogenannten „sicheren Einschluss“ von stillgelegten Atomkraftwerken. Dabei wird die Anlage rund 30 Jahre eingemottet, bevor mit dem Rückbau begonnen wird. Bis dahin können einige radioaktive Stoffe so weit abgeklungen sein, dass nur noch geringe Aktivitäten gemessen werden. Der große Nachteil dieses Verfahrens liegt aber darin, dass das qualifizierte Personal 30 Jahre später nicht mehr zur Verfügung steht. Und noch schwieriger: Alle haustechnischen Anlagen, die für den Rückbau gebraucht werden, von der Heizung oder Kühlung bis hin zum Hebekran, müssten entweder nachgerüstet oder ganz ersetzt werden. Und ein Hebekran in einem Atomkraftwerk lässt sich nicht von der Stange kaufen, er muss speziell für diesen Gebrauch zugelassen sein. Der Verwaltungsaufwand ist gigantisch. Und ob vergleichsweise ahnungsloses Personal den Rückbau sicherer bewältigen könnte als die Leute, die Jahre oder Jahrzehnte in den Anlagen gearbeitet haben, ist zumindest zweifelhaft.
Trotzdem berichtet Gerrit Niehaus, der kommende Woche einen Erörterungstermin zum Rückbau des Atomkraftwerks Neckarwestheim I vor sich hat, dass manche Bürgerinitiativen nun so argumentieren, als wären die „abgeschalteten Atomkraftwerke gefährlicher als die noch laufenden“. Diese Erfahrung hat Eon auch gemacht. Beim Erörterungstermin für den Rückbau des schon vor Jahren stillgelegten Atomkraftwerks Stade seien gerade mal elf Leute gekommen, berichtet Petra Uhlmann. Gegen den Rückbauplan in Neckarwestheim liegen dagegen 2500 Einwendungen vor - und die Bürgerinitiative will zum Erörterungstermin gar nicht erst kommen.
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