RAF, NSU, islamistische Terroristen: Wie sich der Terrorismus in Deutschland gewandelt hat
Sie kämpften gegen das "System", andere "Rassen", den westlichen Lebensstil: Eine Geschichte des Terrors in Deutschland.
Er bittet scheinbar harmlos um eine Zigarette. Arid Uka wirkt auf den Trupp US-Soldaten am Frankfurter Flughafen wie ein Jüngling, den man nicht weiter ernst nehmen muss. Ein tödlicher Irrtum. Als die GIs in den wartenden Army-Bus steigen, zieht der junge Kosovare eine Pistole und schießt einem Soldaten in den Rücken. Das Opfer ist sofort tot. Uka springt in den Bus, ruft „Allahu abkar“ und feuert auf den Fahrer, er stirbt in seinem Sitz. Der Kosovare schießt zwei weiteren Amerikanern in den Kopf, sie überleben schwer verletzt.
Dann versagt die Waffe. Uka flüchtet aus dem Bus, in den Airport hinein. Zwei GIs verfolgen den Schützen und überwältigen ihn mit Hilfe von Beamten der Bundespolizei. Ohne die Ladehemmung hätte Uka wahrscheinlich noch mehr Amerikaner erschossen. Aus Hass auf die USA. Mit seinem Ein-Mann-Dschihad wollte er Rache nehmen für Kriegsverbrechen amerikanischer Soldaten im Irak.
Der 2. März 2011 markiert eine Zäsur. Mit dem Amoklauf in Frankfurt hatte der islamistische Terror erstmals in der Bundesrepublik tödlich zugeschlagen. Knapp 18 Jahre nach dem letzten Terrorakt der RAF, der Schießerei am Bahnhof in Bad Kleinen, die ein Beamter der GSG nicht überlebte, wurde Deutschland von der mörderischen Gewalt des Heiligen Krieges getroffen. Und das vom Prototyp einer neuen Terroristengeneration, der Lone-Wolf-Dschihadisten.
Wer jemals gehofft hatte, die Republik habe nach der jahrzehntelangen Anschlagsserie der RAF das Schlimmste hinter sich, musste spätestens jetzt erkennen: Terrorismus ist ein Phänomen auf Dauer.
Die großen Anschläge passierten anderswo
Dennoch blieb die Bevölkerung nach dem Attentat in Frankfurt gelassen. Vermutlich, weil die Opfer „nur“ US-Soldaten waren, keine Deutschen. Außerdem hatten die Sicherheitsbehörden bislang alle größeren Angriffe islamistischer Fanatiker rechtzeitig stoppen können, wie im Fall der Sauerlandgruppe, die 2007 mit Autobomben Treffpunkte von Amerikanern attackieren wollte. Oder die Täter waren an technischem Unvermögen gescheitert, wie 2006 die libanesischen Kofferbomber in Köln, die in zwei Regionalzügen selbst gebastelte Höllenmaschinen ablegten, die aber nicht explodierten.
Die Terrorfurcht in Deutschland erschien 2011 gedämpft. Die RAF hatte sich längst aufgelöst, die großen Katastrophen passierten woanders, wie am 11. September 2001 in den USA, am 11. März 2004 in Madrid, am 7. Juli 2005 in London.. Und dass in Deutschland von 2000 bis 2006 neun Menschen türkischer und griechischer Herkunft mit derselben Waffe erschossen wurden, galt als Serie mysteriöser „Döner-Morde“, nicht als rassistischer Terror von Neonazis aus dem Untergrund.
Heute, nach dem NSU-Schock und dem Anschlag von Anis Amri in Berlin, der zwölf Menschen das Leben kostete, hat die Republik eine andere Wahrnehmung der Terrorgefahr. Politik, Behörden und Bevölkerung mussten lernen, dass Terrorismus überaus heterogen und schwer kalkulierbar sein kann. Und dass wahrscheinlich immer wieder neue, noch perfidere Methoden zu erwarten sind. Diese Erkenntnisse hatte der Blick auf die vergleichsweise berechenbare, elitäre RAF lange verstellt.
Das Bild der professionell organisierten linksextremen Stadtguerilla, die ihre Taten generalstabsmäßig vorbereitet und dann auch noch pseudointellektuelle Hybris in Bekennerschreiben auswalzt, war über Jahre hinweg das dominierende Terrorklischee. Bei den Sicherheitsbehörden, aber auch bei vielen Medien und in großen Teilen der Gesellschaft. Erst Arid Uka, dann Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und schließlich Anis Amri erschütterten die Gewissheit, „richtigen“ Terror gebe es nur auf dem Niveau der RAF. Obwohl das schon lange falsch war.
Die RAF tötete gezielt Repräsentanten des "Systems"
Am 26. September 1980 hatte in München der Rechtsextremist Gundolf Köhler am Haupteingang zum Oktoberfest eine Bombe gezündet, die wahllos Menschen tötete. 13 Wiesn-Besucher starben, mehr als 200 wurden verletzt. Eine Bekennerschreiben gab es nicht. Auch wenn zweifelhaft bleibt, dass Köhler alleine handelte, ist er vom Typus her islamistischen Einzeltätern wie Uka und Amri weit ähnlicher als RAF-Strategen wie Andreas Baader und Christian Klar.
Zu einer differenzierten Sicht auf den Terrorismus in der Geschichte der Bundesrepublik gehört die Analyse von Unterschieden in Mentalität, Modus Operandi und erzielter Wirkung. Die RAF tötete mit ihren Attentaten gezielt hochrangige Repräsentanten des verhassten kapitalistischen Systems. „Normale“ Leute wurden weitgehend verschont – die Mordanschläge sollten ja die Masse aufrütteln und in revolutionäre Ekstase versetzen. Das misslang völlig. Die RAF provozierte vielmehr eine Lynch-Stimmung gegen sich selbst.
Die von Boulevardmedien noch kräftig angeheizte Volkswut, vor allem während der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Passagiermaschine „Landshut“ im „Deutschen Herbst“ 1977, ist hingegen nach den Anschlägen von Gundolf Köhler, Arid Uka, Anis Amri und nach dem Auffliegen des NSU nicht so stark hochgekocht. Obwohl militante Neonazis und Islamisten eine weit größere, geradezu nihilistische Gefahr für Jedermann und Jedefrau darstellen. Und auch mit wechselnden Prioritäten.
Beim NSU ging es weitgehend gegen eine verhasste Rasse
Der NSU erschoss gezielt türkische und griechische Kleinunternehmer, aber auch eine biodeutsche Polizistin. Und im Juni 2004 traf die Terrorzelle mit ihrer Nagelbombe in der türkisch dominierten Kölner Keupstraße neben Menschen migrantischer Herkunft ebenso Biodeutsche, die in kein rechtsextremes Feindbild passen. Dennoch folgte der NSU wie die RAF dem Konzept, als militante Avantgarde eine bestimmte Bevölkerungsgruppe anzugreifen. Beim NSU, einer Art selbsternannter Brauner Armee Fraktion, ging es weitgehend gegen eine verhasste „Rasse“, bei der Roten Armee Fraktion gegen die herrschende „Klasse“. So gesehen war der NSU der kleine braune Bruder der RAF.
Auch in den Methoden waren sich NSU und RAF trotz beträchtlicher Unterschiede in Personalstärke und Professionalität ähnlich. Mit Attentaten wurden präzise ausgespähte Opfer attackiert. Ihr Tod sollte die zentrale Botschaft des Terrors sein. Der NSU wollte Türken derart verängstigen, dass sie Deutschland verlassen. Die RAF wollte mit Mordanschlägen den angeblichen „Faschismus“ der Führungsschicht der Republik herauskitzeln, also eine massive staatliche Repression provozieren – in der Erwartung, dass die unterdrückten „Volksmassen“ dann revoltieren würden.
Anders als die RAF verzichtete der NSU jedoch darauf, sich gleich nach den Anschlägen zu bekennen. Die Neonazis setzten bis zum Ende ihrer Terrorzelle allein auf die Propaganda der Tat. Erst als Mundlos und Böhnhardt tot waren, verschickte Beate Zschäpe die Bekenner-DVD mit dem zynischen Paulchen-Panther-Video. Zuvor hätten sich der Serienmord an Türken und die Sprengstoffanschläge gegen Migranten in Köln und Nürnberg selbst erklären sollen. Doch die erhoffte Resonanz blieb aus. Bis auf die betroffenen Opferfamilien ahnte kaum jemand, dass die Türken aus rassistischem Hass attackiert wurden.
Der islamistische Terror ist komplett entgrenzt
Der islamistische Terror ist nun alles auch, was RAF und NSU waren – und mehr. Die Auswahl der Opfer reicht von verhassten Einzelpersonen bis zur Gesamtheit der „Ungläubigen“. Wollte Arid Uka noch gezielt amerikanische Soldaten töten, ging es Anis Amri um ein Blutbad mit möglichst vielen westlichen Opfern. Wer konkret auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz stirbt, war dem Tunesier gleichgültig. Die Amokfahrt mit dem Lkw würde auf jeden Fall Ungläubige treffen und Deutschland zutiefst erschrecken. Das Kalkül ging auf.
Im Unterschied zu RAF und NSU ist der islamistische Terror komplett entgrenzt. Alles ist möglich. Angreifer können radikalisierte Internetjunkies wie Arid Uka sein. Oder professionelle Hit-Teams der Terrormiliz IS wie im November 2015 in Paris. Oder eine Schläferzelle, die Al Qaida eingeschleust hat. Oder brutalisierte Rückkehrer aus den Kampfzonen in Syrien, Irak, Afghanistan, Somalia. Oder ein Trupp wie die arabischen Studenten aus Hamburg, die am 11. September 2001 als Selbstmordpiloten die USA heimsuchten. Oder ein deutscher Konvertit wie Marco G., der im Dezember 2012 am Bonner Hauptbahnhof einen Sprengsatz ablegte. Oder eine fanatisierte Schülerin wie Safia S., die im Februar 2016 in Hannover mit einem Gemüsemesser einem Bundespolizisten in den Hals stach.
Oder eine salafistische Jugendgang wie die Bombenbastler, die im April 2016 einen Sikh-Tempel in Essen attackierten. Oder ein syrischer Flüchtling wie Mohammed Daleel, der sich im Juli 2016 in Ansbach mit einer Rucksackbombe in die Luft sprengte. Oder ein kleinkrimineller Drogendealer wie Anis Amri. Oder ein labiler Asylbewerber wie der Palästinenser Ahmad Alhaw, der im Juli 2017 in einem Hamburger Edeka-Markt einen Mann erstach und weitere Kunden verletzte. Oder auch ein gedrilltes Kind, das in Deutschland in einer Salafistenfamilie aufwächst. Oder ein islamistischer Cyberfreak, der die Steuerung einer Nuklearanlage oder einer Chemiefabrik hackt.
Und das dürften noch nicht alle Varianten des islamistischen Terrors sein. Angesichts der irrwitzigen Vielfalt des Schreckens wirken RAF und NSU fast schon eindimensional. Doch die von militanten Links- und Rechtsextremisten ausgehende Terrorgefahr ist keineswegs verschwunden. Vielmehr kommt sie zum Drohpotenzial der militanten Islamisten noch hinzu. Auch wenn im Linksextremismus derzeit keine Strukturen zu erkennen sind, die mit der RAF zu vergleichen wären, ist die Bundesrepublik mit einem noch komplexeren Anschlagsrisiko konfrontiert als vor 25 Jahren. Die Herausforderung speziell für Polizei, Nachrichtendienste und Justiz ist heute höher als selbst 1977, im „Deutschen Herbst“. Der nächste Anis Amri, der nächste Arid Uka oder welcher Heilige Krieger auch immer, alleine oder mit Komplizen, dürfte in der Bundesrepublik bereits ein Ziel im Blick haben.