Attentat in New York: Die Gefahr durch den individuellen Dschihad
Der Attentäter von Manhattan handelte allein. Auch der Syrer in Schwerin hatte wohl keine Unterstützer. Welche Gefahr droht durch diesen Tätertyp?
Die Tatorte sind weit voneinander entfernt, doch die Methoden sind nah beisammen. Wie sich am Dienstag nahezu exemplarisch gezeigt hat. Die Festnahme eines islamistischen Bombenbastlers in Schwerin und der mörderische Anschlag mit einem Pickup in New York sind nach Ansicht deutscher Sicherheitskreise zwei Facetten desselben Phänomens – des individuellen Dschihad.
Akteure sind komplett unabhängige „Einsame Wölfe“ oder auch Kleingruppen sowie vom IS kontaktierte Täter, die autonom ihren „Heiligen Krieg“ führen. So primitiv die Mittel sein mögen, Polizei und Nachrichtendienste sehen diese Form des Dschihad als eine besonders tückische Variante des globalen Angriffs der islamistischen Terrorszene. Getroffen wurden allein im Westen schon mehrere Städte in den USA sowie – die Liste ist rudimentär – London, Manchester, Nizza, Stockholm, Kopenhagen, Marseille, Barcelona, Melbourne, Edmonton (Kanada). In Deutschland waren es Frankfurt am Main, Hannover, Essen, Würzburg, Ansbach, Berlin und Hamburg.
Was verbindet die Szenarien in New York und Schwerin?
Sicherheitsexperten nennen einen banalen Grundsatz mit schrecklicher Wirkung: jeder nach seinen Fähigkeiten. In New York nutzte der aus Usbekistan stammende Saifullo Saipow einen gemieteten Pickup als Waffe und tötete acht Menschen. In Schwerin traute sich der syrische Flüchtling Yamen A. zu, eine Bombe zu bauen, die vermutlich ferngezündet in einer Menschenmenge explodieren sollte. Der 19-jährige Islamist stellte sich allerdings nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden teilweise dilettantisch an, vor allem bei der Online-Bestellung von Komponenten für den Sprengsatz.
Yamen A. praktizierte allerdings wie Saifullo Saipow einen typischen Do-it-yourself-Terror. Dies ist eines der Kennzeichen, das den individuellen Dschihad von den großen Angriffen militanter Organisation wie dem „Islamischen Staat“ und Al Qaida unterscheidet. In New York und Schwerin agierte kein Kommando, das geschickt wird, um mit großem Aufwand symbolträchtige Metropolen anzugreifen, wie es der IS vor zwei Jahren in Paris tat und Al Qaida am 11. September 2001 in den USA. Do-it-yourself-Attentäter sind meist Amateure – mit dem unbedingten Willen, wie die Profis ebenfalls Angst und Schrecken zu verbreiten.
Was inspiriert Einzeltäter wie Saifullo Saipow?
Viele radikalisieren sich über das Internet. Einzeltäter konsumieren extremistische Websites, auf denen der Kampf des IS verherrlicht wird und gegen die Ungläubigen gehetzt wird. Befeuert wird die Radikalisierung zudem in Chats und Foren, in denen islamistische Agitatoren zur militanten Aktion aufrufen. Der Besuch extremistischer Moscheen ist ein weiterer Faktor.
Als eine Art Mantra des individuellen Dschihad nennen Sicherheitsexperten den Aufruf des 2016 beim US-Luftschlag getöteten Propagandachefs des IS, Abu Mohammad al Adnani. Im September 2014 hatte der Syrer die Anhänger und Sympathisanten der Terrormiliz in einer Audiobotschaft angestachelt, weltweit mit allen denkbaren Mitteln Ungläubige anzugreifen. „Zerschlagt ihre Köpfe mit einem Stein, schlachtet sie mit einem Messer, überfahrt sie mit einem Auto, werft sie von einem hohen Punkt, erstickt oder vergiftet sie“, deklamierte Adnani. Und er fand offenkundig Gehör.
Angesichts seiner militärischen Niederlagen und dem zunehmenden Verlust an „Staatsgebiet“ drängt der IS nun erst recht seine Fans, sie sollten in ihrer Heimat zuschlagen. Im Internet gibt die Terrormiliz auch detaillierte Empfehlungen für Do-it-yourself-Attacken, zum Beispiel für Anschläge mit Messern. Aber auch Al Qaida wirbt für den individuellen Dschihad. Und schon länger als der IS. Kurz nachdem der Kosovare Arid Uka im März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen und zwei weitere schwer verletzt hatte, feierte die jemenitische Filiale der Terrororganisation im Internet den Täter als „heldenmütigen Kämpfer“ und rief zur Nachahmung auf. Al Qaida präsentierte online auch schon früh Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen.
Wie gefährdet ist Deutschland?
Das Risiko ist auch mehr als sechs Jahre nach der Tat von Arid Uka, einem „Einsamen Wolf“ ohne Verbindung zu einer Organisation, unvermindert hoch. Auf den Anschlag von Uka folgten mehrere Angriffe von Einzeltätern, die auch alle dem individuellen Dschihad zuzurechnen sind.
Im Februar 2016 stach die gerade mal 15 Jahre alte IS-Anhängerin Safia S. in Hannover mit einem Messer einem Bundespolizisten in den Hals. Zwei Monate später warfen jugendliche Salafisten in Essen einen Sprengsatz auf einen Sikh-Tempel, drei Menschen wurden verletzt. Bei den Tätern gab es Sympathien für den IS, die Terrormiliz steckte aber offensichtlich nicht hinter dem Anschlag.
Im Juli des Jahres schlug in Würzburg der Flüchtling Riaz Khan Ahmadzai mit einer Axt um sich – fünf Verletzte. Nur sechs Tage später sprengte sich der Syrer Mohammed Daleel im fränkischen Ansbach mit einer Rucksackbombe in die Luft. 15 Menschen erlitten Verletzungen.
Dann folgte im Dezember die Amokfahrt von Anis Amri in Berlin. Der Tunesier tötete zwölf Menschen und verletzte mehr als 50. Das ist bislang der schwerste islamistische Terrorangriff in Deutschland. Und es ging weiter. Am 28. Juli 2017 erstach in Hamburg der palästinensische Flüchtling Ahmad A. einen Mann und verletzte sechs weitere Menschen. Einen Bezug zum IS gibt es vermutlich nicht.
Der Fall Yamen A. in Schwerin ist nun offenkundig ein weiterer Beleg für die anhaltend hohe Terrorgefahr – speziell durch den individuellen Dschihad. Hätten das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt den Syrer nicht frühzeitig als hoch gefährliche Figur identifiziert, wäre ein schwerer Anschlag zu befürchten gewesen. Der Beschuldigte habe spätestens im Juli den Entschluss gefasst, „in Deutschland inmitten einer größeren Menschenansammlung einen Sprengsatz zu zünden und dadurch eine möglichst große Anzahl von Personen zu töten und zu verletzen“, teilte am Dienstagnachmittag die Sprecherin des Generalbundesanwalts mit.
Wie fördert der IS individuellen Dschihad?
Yamen A. sei von einem mutmaßlichen IS- Mann, der sich selbst als „Soldat des Kalifats“ bezeichnete, „technisch angeleitet“ worden, sagen Sicherheitskreise. Die Terrormiliz hat sich allerdings bislang nicht zu dem Syrer bekannt. Die Täter von Hannover, Würzburg, Ansbach und Berlin standen in Kontakt zum IS.
Die Messerstecherin in Hannover, Safia S., war vor der Tat in der Türkei. Dort wurde sie von IS-Leuten zu einer „Märtyreroperation“ in Deutschland aufgefordert. Nach den Anschlägen in Würzburg, Ansbach und Berlin veröffentlichte die IS-nahe Medienagentur „Amaq“ Bekennervideos. Über den Messerstecher in Hamburg berichtete das IS-Online-Magazin „Al Naba“, doch ein Bekenntnis der Terrormiliz zur Tat blieb aus.
Welche Gegenwehr ist möglich?
Die Sicherheitsbehörden, nicht nur in Deutschland, können dem individuellen Dschihad allenfalls begrenzt vorbeugen. Wann sich ein Muslim radikalisiert und wann die Radikalisierung einen kritischen Punkt erreicht, wird von Polizei und Nachrichtendiensten oft spät oder auch zu spät bekannt.
Im Fall Amri war das anders, doch Behörden versäumten, rechtzeitig einzugreifen. Einige Sicherheitsexperten empfehlen, die „Zentralstellenfunktion“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamts, des Generalbundesanwalts und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu stärken. Mit dem Ziel, dass die Behörden ihre Partner auf Landesebene im Fall eines Terrorverdachts frühzeitig dirigieren können.
Gefordert wird auch, die internationale Zusammenarbeit der Nachrichtendienste zu stärken. So müsse die Counter Terrorism Group, ein Zusammenschluss der Inlandsnachrichtendienste der EU-Staaten sowie Norwegens und der Schweiz, endlich „IT-mäßig vernetzt werden“, heißt es.
Bislang fehle eine gemeinsame Datenbasis, das sei ein Manko gerade auch im Fall von Terrorverdächtigen aus dem schwer zu durchforstenden Spektrum des individuellen Dschihad. Die Experten sind es leid, immer wieder unangenehme Überraschungen zu erleben.