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Eine Demonstration der Initiative "Keupstraße ist überall"
© dpa
Update

NSU-Prozess - der 176. Tag: "Wie in Trance"

Am 176. Tag wird weiter der Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln verhandelt. 22 Menschen wurden damals verletzt, viele kämpfen bis heute mit den Folgen. Zeugen erzählen beklemmende Geschichten.

Der Anschlag ist mehr als zehn Jahre her, doch die meisten Opfer leiden noch heute – und jetzt erst recht, da sie vor Richtern, Anwälten und Angeklagten öffentlich auftreten und ihre Erinnerung darlegen müssen. Am Mittwoch haben im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München weitere Zeugen ausgesagt, die am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße waren, als die von den Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt deponierte Nagelbombe vor einem türkischen Friseursalon explodierte. Selbst wenn die äußeren Verletzungen der Opfer weniger schwer erscheinen, sind die seelischen Folgen oft gravierend. Mit Qualen in schmerzhaften Intervallen.

Sie sei 2004 „in einer sehr schlechten psychischen Verfassung gewesen“, sagt 47-jährige Emine K. Sie hatte sich am Tag der Tat im Geschäft ihres Bruders aufgehalten, in der Nähe hatten Mundlos und Böhnhardt das präparierte Fahrrad mit 5,5 Kilo Sprengstoff und Hunderten Zimmermannsnägeln abgestellt. Bei dem Anschlag wurden 22 Menschen verletzt, die Keupstraße sah aus wie ein Schlachtfeld. Emine K. stand zufällig so,  dass sie von den fliegenden Nägeln und Splittern verschont blieb, der starke Knall schädigte allerdings ihr rechtes Ohr.  Doch schlimmer ist das, was sich  heute  in ihrem Kopf abspielt. Halbtaub war sie auf die Straße gelaufen und hatte versucht, einem Mann zu helfen, dessen Beine brannten. Sie kann es nicht vergessen.

Auch in den Jahren nach 2004 ging es Emine K. kaum besser, „wegen meiner Probleme mit der Konzentration wurde ich bei Vorstellungsgesprächen nicht genommen“. Die kleine Frau mit dem silberfarbenen Kopftuch spricht auch von Schlafstörungen, „ich habe fürchterliche Alpträume“. Als im November 2011 der NSU aufflog und herauskam, wer in Köln gebombt hatte, hätten die psychischen Beschwerden noch „erheblich zugenommen“, sagt sie. Eine Therapie half nur vorübergehend. In den Wochen vor dem Prozess litt sie noch einmal stärker, „da wird in den Medien soviel berichtet und ich stellte bei mir eine enorme Verschlechterung fest“. Die neben Emine K. sitzende Anwältin streicht ihr über den linken Arm. Für ein paar Sekunden hängt eine schwere Stille im Saal A 101.

Noch immer traumatisiert

Den Juwelier Metin I. trifft das Inferno ebenfalls jetzt noch. „Wenn ich auf der Keupstraße bin und sehe ein Fahrrad vorbeifahren, dann denke ich, es könnte wieder passieren, ich laufe rein“, sagt der 58-Jährige. Drei Nägel hatten ihn getroffen, doch Metin I. hatte noch Glück, es blieb bei Schürfwunden. Und seit dem Knall hört er auf dem rechten Ohr deutlich schlechter. „Ich habe weitergearbeitet, ich kann nicht zuhause sitzen, dann geht es psychisch noch schlimmer“, sagt der gealtert wirkende Mann. Und er klagt, nach dem Anschlag in der Keupstraße seien „die Geschäfte sehr zurückgegangen“, noch heute hätten sich die Einzelhändler nicht ganz erholt.

Ein jüngerer Zeuge hat die Tat besser verkraftet – scheinbar. Er sei damals „wie in Trance“ gewesen, sagt der 29 Jahre alte Fatih K. Der Bürokaufmann hatte eine Verletzung am Hinterkopf und an der Nase, außerdem plagen ihn seit dem Anschlag Entzündungen im Ohr. Doch auf die Frage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl nach psychischen Beschwerden winkt Fatih K. ab. Mit einer schrecklichen Begründung. Er habe nach dem 9. Juni 2004 noch ganz andere Schicksalsschläge erlebt, „ich verlor  meinen Vater“. Da sei die Erinnerung an den Anschlag „in den Hintergrund gerückt“.

Viele Opfer leiden bis heute unter dem Anschlag

Unter den Opfern befand sich auch ein deutscher Rentner. Gerd H. war mit dem Fahrrad unterwegs, als es knallte. „Ich bekam Angst und einen furchtbaren Schmerz in meinen Ohren“, sagt der 78-Jährige, „das war unbegreiflich schlimm“. Er hat weiterhin Probleme mit den Ohren, er hört rechts schlecht und ein Tinnitus rauscht ständig im Kopf. „Die Belastung geht mal hoch, mal runter“, sagt Gerd H. Pause. „Wenn etwas aufgewühlt wird, steigert es sich“.

Bedrückend ist auch die Aussage des Friseurs Hasan Y. Seinem Bruder gehört der Salon, vor dem die Bombe hochging. Kurz vor der Explosion sah Hasan Y.  die Person, die das Fahrrad mit der Box abstellte, in dem der Sprengsatz versteckt war. Der Mann sei ungefähr 30 Jahre alt gewesen, etwa 1,80 Meter groß, er habe lange Koteletten gehabt und eine Baseballkappe auf dem Kopf. „Etwa eine Sekunde haben wir uns gegenseitig angeblickt“, erinnert sich Hasan Y. Laut Bundesanwaltschaft handelte es sich um Uwe Mundlos.

"Unvorstellbare Schmerzen"

Ein, zwei Minuten später, sagt der 40-Jährige, „habe ich eine Druckwelle gespürt“. Es brach Chaos aus. Er habe geblutet, überall im Laden hätten Leute geschrien. „Ich hatte unvorstellbare Schmerzen“, sagt Hasan Y., „am Kopf hatte ich Platzwunden, an den Armen und den Händen Schnittwunden“. Als er das Geschäft verließ, sah er, was die Bombe auch draußen angerichtet hatte, „das war wie eine Kriegsszene aus dem Fernsehen, Verletzte mit hässlichen Wunden, viele Trümmer“. Hasan Y. redet hastig, der Dolmetscher kommt kaum mit. Am Oberarm habe er weiterhin Schmerzen, sagt Hasan Y., „ich kann nicht mit voller Kraft als Friseur arbeiten“.

Der Mann ist auch psychisch immer noch angeschlagen. Vor der Aussage im Prozess, sagt Hasan Y. habe er kaum geschlafen. Den Friseur belastet nicht nur die traumatische Erinnerung an den Anschlag, an den verwüsteten Friseurladen, der wiederaufgebaut werden musste. Hasan Y. hat auch unter den Ermittlungen der Polizei gelitten. Sie nahm auch andere Opfer ins Visier, doch Hasan Y. und sein Bruder standen offenbar am stärksten in Verdacht, in die Tat verstrickt zu sein.

Polizei observierte türkischstämmigen Anwohner - zu Unrecht

Er und die Familie hatten den Eindruck, bei den Vernehmungen  Beschuldigte zu sein. „Das war für uns wie eine zweite Verletzung“, sagt Hasan Y. Die Polizei habe versucht, „mit ihren Fragen die Familienmitglieder gegeneinander auszuspielen“. Und sie  seien observiert worden, „vor meinem Haus und dem meines Bruders saßen ein bis zwei Monate Personen in einem Wagen“. Ein Nebenklage-Anwalt zitiert dazu aus Ermittlungsakten, wonach im September 2006, mehr als zwei Jahre nach dem Anschlag, die Kölner Staatsanwaltschaft eine Observation von Hasan Y. angeordnet hat. Als 2011 nach dem Ende des NSU herauskam, wer die Bombe gezündet hatte, habe er sich „teilweise rehabilitiert gefühlt“, sagt Hasan Y. Aber auch die Erinnerung an die Tat und die Verzweiflung über den Verdacht der Polizei setzten ihm wieder zu. Und „dass wir keine Hilfe vom deutschen Staat bekamen, obwohl wir ein Hauptziel des Anschlags waren“.

Am Dienstag hatten bereits Opfer ausgesagt, die der Anschlag noch härter getroffen hatte. Ein türkischstämmiger Mann hatte neun Nägel abbekommen – und mehr als 100 Splitter im Gesicht.

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