NSU-Prozess - der 173. Tag: Tatort Keupstraße
Im NSU-Prozess ist jetzt der Nagelbomben-Anschlag von 2004 in Köln ein großes Thema. Dabei kommt eine Ermittlungspanne zur Sprache. Die Polizei hat nicht gründlich genug nach ähnlichen Bombenbasteleien geschaut.
Die Bilder und Aussagen sind beklemmend. Der Friseursalon ist verwüstet, auf dem Gehweg liegen Teile der Holzverkleidung und die heruntergerissene Markise. An der Außenwand ziehen sich Schmauchspuren hoch, im ersten Stock sind die Scheiben geborsten. Der vor dem Geschäft geparkte BMW ist ein entglastes Wrack. Die Häuser und Fahrzeuge in der Umgebung sind ebenfalls beschädigt, überall liegen Glassplitter. Im Putz eines Hauses und im Blech eines Transporters stecken Zimmermannsnägel, die zu hunderten durch die Luft geflogen sind. „Wir haben Nägel in einem Hinterhof gefunden“, sagt ein als Zeuge geladene Polizist, „die sind über mehrstöckige Häuser drüber“.
Mit drastischen Fotos und Angaben von Beamten des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen hat am Montag ein weiteres Kapitel im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München begonnen. Der 6. Strafsenat hat am 173. Verhandlungstag die Beweisaufnahme zum Nagelbombenanschlag der rechtsextremen Terrorzelle in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 aufgenommen. Bislang war das Verbrechen nur am Rand ein Thema. Zu Beginn des Prozesses im Mai 2013 hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl noch überlegt, den Komplex Keupstraße abzutrennen. Der Protest der Opferanwälte war jedoch so heftig, dass Götzl die Idee begrub.
Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten am 9. Juni 2004 vor dem Haus Keupstraße 29 im Stadtteil Mülheim ein Fahrrad mit der Nagelbombe abgestellt
Die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten am 9. Juni 2004 vor dem Haus Keupstraße 29 im Stadtteil Mülheim ein Fahrrad abgestellt, auf dem in einer Hartschalenbox der Sprengsatz versteckt war – eine mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und hunderten Zimmermannsnägeln gefüllte Campinggasflasche. Gegen 16 Uhr zündeten Mundlos und Böhnhardt die Höllenmaschine per Funk. Um in der Keupstraße mit ihren vielen türkischen Läden und Bewohnern ein blutiges Chaos anzurichten. Dass kein Mensch starb, ist fast schon ein Wunder.
Den beiden Beamten der Tatortgruppe des LKA bot sich ein grauenhaftes Bild, als sie mit ihren Kollegen in der Straße eintrafen. Auf beiden Seiten beschädigte Häuser und Fahrzeuge, Gehwege und Fahrbahn übersät mit Splittern und den zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln. Immerhin blieb den Beamten der Anblick der Verletzten erspart, sie waren schon in Krankenhäuser gebracht worden.
Die Tatortgruppe sammelte akribisch Nägel und Splitter ein. „Wir haben 702 solche Nägel gefunden“, sagt der erste Zeuge am Montag, „die waren stark deformiert“. Die Beamten tüteten auch die Reste der blauen Gasflasche ein und Überbleibsel des Fahrrads, der Box und einer am Rad angehängten Tasche, in der die Zündvorrichtung gesteckt hatte. Zwei Tage lang suchten die Experten des LKA den Tatort ab, kleinere Splitter fanden sich noch in 250 Meter Entfernung von dem türkischen Friseursalon, vor dem das präparierte Fahrrad gestanden hatte.
Gleich am Montag kommt auch eine Pannen bei den Ermittlungen zur Sprache. Opferanwälte fragen den ersten LKA-Zeugen, warum eine Abfrage beim „Tatmittelmeldedienst USBV“ (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen), einer Datei des Bundeskriminalamts, zeitlich auf fünf Jahre zurück beschränkt wurde. „Ich habe keine vernünftige Erklärung dafür“, sagt der Beamte. Der Fehler war womöglich fatal.
Sechs Jahre vor dem Anschlag, am 26. Januar 1998, hatte die Polizei in Jena eine Garage mit einer Bombenwerkstatt entdeckt. Gemietet hatte die Garage Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im Prozess. Mutmaßlich Zschäpes Freunde Mundlos und Böhnhardt hatten dort versucht, Rohrbomben zu basteln, es lagen halbfertige Sprengsätze herum. Möglicherweise hatte auch Zschäpe mitgewirkt.
Hätte das LKA Nordrhein-Westfalen nach dem Anschlag in Köln die USBV-Abfrage zeitlich nicht beschränkt, wäre vermutlich über die BKA-Datei der Fall Jena in den Blick der Ermittler geraten. Und sie hätten dem Verdacht nachgehen können, die einst am Tag der Razzia in Jena abgetauchten Rechtsextremisten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe könnten für die Tat in der Kölner Keupstraße verantwortlich sein.
Die Bundesanwaltschaft hält Zschäpe auch bei diesem Anschlag für die Mittäterin, wie bei den zehn Morden und allen weiteren Verbrechen des NSU. In ihrem zynischen Bekennervideo, durch das die Zeichentrickfigur Paulchen Panther als eine Art Conferencier des Schreckens läuft, hat sich die Terrorzelle auch zu der Tat in Köln bekannt.
Zschäpe blickt am Montag bei den Aussagen und Fotos mal in ihr Laptop, dann auf die Wand gegenüber, an die die Bilder von der Keupstraße projiziert werden. Was die Angeklagte denkt, lässt sich, wie üblich seit Beginn des Prozesses, nicht erkennen. Zschäpe schweigt auch am ersten Verhandlungstag im Jahr 2015.
Ein Untersuchungsausschuss befasst sich mit den Fehlern der Sicherheitsbehörden
Mit den Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zu den Verbrechen des NSU in Nordrhein-Westfalen befasst sich auch ein Untersuchungsausschuss des Landtags in Düsseldorf. Die Abgeordneten würden sich intensiv mit Fehler der Sicherheitsbehörden befassen, sagt FDP-Obmann Joachim Stamp, der am Montag zum NSU-Prozess nach München gekommen ist. Die Terrorzelle hatte in Nordrhein-Westfalen laut Anklage einen Mord in Dortmund und zwei Sprengstoffanschläge in Köln verübt. Der Verdacht, alle drei Fälle könnten einen gemeinsamen, rassistischen Hintergrund haben, kam weder den Behörden noch der Politik oder den Medien.
Kurz nach dem Anschlag in der Keupstraße erklärten der damalige Bundesinnenminister Otto Schily und sein Amtskollege in Nordrhein-Westfalen, Fritz Behrens (beide SPD), die bisherigen Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden deuteten „nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu“. Im April 2012 bedauerte Schily, die damals wiedergegebene „Einschätzung“ der Behörden habe sich als „schwerwiegender Irrtum“ erwiesen.
Unterdessen planen die Initiative „Keupstraße ist überall“ und das „Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen“ für den 20. Januar einen Aktionstag. Für dieses Datum sind erstmals im Prozess Opfer des Anschlags als Zeugen geladen.