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Tägliches Ritual: Die Angeklagte Beate Zschäpe (2.v.l.) dreht Fotografen und Kameraleuten vor Beginn des Prozesstages den Rücken zu.
© dpa

NSU-Prozess: "Ich werde oft gefragt, wie man das aushält"

Der NSU-Prozess ist ein Jahrhundertverfahren. Bislang gab es 172 Verhandlungstage - und von Beginn an berichtet Tagesspiegel-Reporter Frank Jansen aus dem Oberlandesgericht in München. Hier zieht er eine ganz persönliche Zwischenbilanz.

Der massige Mann mit dem rasierten Schädel sitzt morgens schon vor acht Uhr auf der Empore. Seit Monaten kommt Robert S. so früh und steuert die erste Reihe vor der breiten Scheibe an. Durch sie blickt er hinunter zu den Tischreihen, an denen die Angeklagten Platz nehmen werden. Robert S. interessiert sich besonders für eine.

Wenn kurz vor zehn Uhr Beate Zschäpe in den Saal A 101 schreitet und an ihrem Stuhl den Fotografen und Kameraleuten den Rücken zudreht, beugt sich Robert S. weit nach vorn. Mit schmachtendem Blick beobachtet er, wie sie da steht, sich hinsetzt, in ihrer pinkfarbenen Einkaufstasche kramt, mit ihren Verteidigern plaudert. Bei den Journalisten, die auch auf der Empore sitzen, hat Robert S. den Spitznamen "der Groupie". Spricht man ihn an, sagt er, Zschäpe tue ihm leid. Die Angeklagte würdigt den seltsamen Zuschauer keines Blickes.

Zschäpes hartnäckiger Verehrer ist eine spinnerte, aber eher harmlose Figur im NSU-Prozess. Als Rechtsextremist ist der Mann nicht bekannt, von den harten Neonazis, die ebenfalls ins Oberlandesgericht München kommen, wird er ignoriert. Und "der Groupie" hat in diesem Jahrhundertverfahren einen makaberen Unterhaltungswert. Das ist in dem – auch für Journalisten – oft schwer erträglichen Prozess im passenderweise hässlichen, engen Betonbunker an der Nymphenburger Straße fast schon ein Lichtblick.

Beklemmende Zeugenaussagen

Ich werde oft gefragt, wie man das aushält. Von den bislang 172 Prozesstagen habe ich 167 erlebt, viele waren eine Zumutung. Ins Gedächtnis eingebrannt sind die Bilder zerschossener Köpfe türkischer Kleinunternehmer. Das blutrünstige, zynische Paulchen-Panther-Video der Terrorzelle. Die beklemmenden Aussagen von Zeugen zu den Verbrechen der Terrorzelle, vor allem zu den Morden an neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft und einer Polizistin. Aber auch zum brutalen Überfall von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf eine Filiale der Sparkasse in Eisenach. Und zu den schweren Verletzungen, die eine junge Iranerin erlitt, als im Januar 2001 im Geschäft ihres Vaters in Köln eine Bombe hochging.

Mundlos und Böhnhardt sollen den Sprengsatz in einer Christstollendose versteckt haben. Ein Polizist, der das Opfer im Krankenhaus aufgesucht hatte, war noch jetzt, mehr als 13 Jahre nach der Tat, fassungslos. "Das Opfer war verbrannt, aufgedunsen", sagte der Beamte im Juni als Zeuge. Die junge Frau habe ausgesehen "wie ein Stück Grillfleisch".

Berichtet seit Prozessbeginn aus München: Tagesspiegel-Reporter Frank Jansen.
Berichtet seit Prozessbeginn aus München: Tagesspiegel-Reporter Frank Jansen.
© Mike Wolff

Da zuckt man zusammen. Es war wieder einer dieser Momente, in denen man sich als Journalist fragt: Warum tue ich mir das an? Warum gehe ich seit Prozessbeginn im Mai 2013 Tag für Tag hierhin und riskiere womöglich, am Ende selbst mit einer latenten Traumatisierung nach Berlin zurückzufahren?

Die Antwort fällt schwer und ist doch ständig präsent. Gerade weil der NSU-Terror so verheerend war und ein ganzes Land die Opfer lange nicht ernst genommen hat, weil auch in den Medien abschätzig von "Dönermorden" die Rede war und weil das Geraune der Sicherheitsbehörden über kriminelle Machenschaften der Opfer hingenommen wurde, empfinde ich die Berichterstattung über diesen Prozess als Pflicht.

Bis zu 13 Stunden auf der Empore

Das ist nicht die einzige Motivation, sich der Strapaze einer Hauptverhandlung zu unterziehen, bei der man bis zu 13 Stunden auf der engen Empore des Saales A 101 hockt. Es ist auch die Gelegenheit zu einem düsteren Erkenntnisgewinn, vor dem man sich eigentlich fürchtet, der aber den Blick auf das eigene Land weitet. Nie zuvor habe ich in einem Prozess in so viele Abgründe geblickt wie in diesem.

Da ist die extreme Kaltblütigkeit, mit der Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die zehn Menschen erschossen. Am helllichten Tag. Wie am 6. April 2006 in Kassel. Die beiden Männer stürmen ins Internetcafé von Halit Yozgat, schießen ihm in den Kopf, laufen raus und sind weg. Yozgat stirbt noch am Tatort.

Abgründe tun sich auch in den Köpfen der Zeugen auf. Ein früherer Polizist erläutert Bilder zum Mord an Abdurrahim Özüdogru. Mundlos und Böhnhardt hatten den Türken am 13. Juni 2001 in seiner Schneiderei in Nürnberg getötet. Auf den Fotos ist die Leiche zu sehen und dann auch die unaufgeräumte Wohnung des Opfers. "Im Schlafzimmer ist die Unordnung noch größer, als sie zuvor schon war", mokiert sich der frühere Beamte.

Ein ehemaliger Nachbar von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in Zwickau berichtet von lustigen Trinkrunden in seinem Keller. Auf dem Fernseher stand ein Bild von Adolf Hitler, "das gute Stück". Eine frühere Bekannte Zschäpes aus Zwickau beharrt darauf, ihre ausländerfeindliche Gesinnung sei "normal". Eine vierfache Mutter aus Chemnitz behauptet, sie habe die sächsische Sektion der militant braunen Skinheadvereinigung "Blood & Honour" mitgegründet in der Erwartung, "dass man befreundet ist, dass wir viele Familien haben, wo man gemeinsam mit Kindern Unternehmungen macht". Blood & Honour wurde im Jahr 2000 vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) wegen der Gefahr für die innere Sicherheit verboten.

Professionelle Distanz? Das gelingt nicht immer

Wie geht man als Journalist mit dem Grusel um? Man verarbeitet ihn in den Texten für die Zeitung, man reicht ihn von München an die Kollegen in Berlin weiter. Möglichst authentisch, mit gedimmter Empörung, gemäß der in den Berufsjahren erworbenen professionellen Distanz. Das gelingt nicht immer, mancher Schrecken aus dem NSU-Prozess hallt lange nach. Doch klischeehafte Reaktionen, wie sie in Filmen bei Reporter-Darstellern üblich sind, gibt es in München nicht. Nach einem Prozesstag wird nicht in einer Kneipe gesoffen, meist geht man früh schlafen, um am nächsten Tag halbwegs fit zu sein. Die Kondition muss noch lange halten.

Der 6. Strafsenat mit dem energischen Vorsitzenden Manfred Götzl hat vorsorglich Termine bis zum Januar 2016 bekannt gegeben. Das Programm, das noch bevorsteht, erscheint gewaltig. Am 12. Januar, dem ersten Verhandlungstag im kommenden Jahr, wollen die Richter in die Beweisaufnahme zum Nagelbombenanschlag vom 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße einsteigen. Bei der Tat erlitten mehr als 20 Menschen, die meisten sind Türken, Verletzungen durch herumfliegende Nägel und Splitter.

Dann müssen sich die Prozessbeteiligten noch mit 14 Raubüberfällen der Terrorzelle befassen. Weitgehend „verhandelt“ sind die zehn Morde des NSU, der Sprengstoffanschlag vom Januar 2001 auf das iranische Geschäft in Köln, der letzte Raubüberfall von Mundlos und Böhnhardt in Eisenach am 4. November 2011 und das dramatische Ende des NSU an diesem Tag, an dem auch mutmaßlich Zschäpe die Wohnung in Zwickau in Brand setzte. Das Geflecht der Hintermänner und -frauen der Terrorzelle ist halbwegs durchleuchtet, die vielen Opferanwälte haben aber noch reichlich Fragen.

Schwierig, den Durchblick zu behalten

Dieser Prozess hat eine historische Dimension. Die Journalisten, die regelmäßig auf der Empore im Saal A 101 sitzen, sind sich einig: Entweder man begleitet die Hauptverhandlung kontinuierlich oder es wird schwer, den Durchblick zu behalten. In der Chronik, die ich zu Beginn des Prozesses angelegt habe, sind bereits mehr als 300 Zeugen mit ihren Aussagen aufgelistet. Und es werden noch viele kommen. Auch der Zulauf schräger Figuren, von Neonazis bis zu Gestalten wie Robert S., dürfte anhalten.

Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis der NSU-Komplex als Nazi-Krimi verfilmt wird. Dass ich nach dem Prozess auch noch so einen Thriller sehen möchte, kann ich mir im Moment nur schwer vorstellen.

Frank Jansen

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