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Mitglieder der Initiative «Keupstraße ist überall» stehen vor dem Oberlandesgericht in München und halten ein Schild mit der Aufschrift «Opfer wurden zu Tätern gemacht» in die Höhe.
© dpa
Update

NSU-Prozess - der 175. Tag: "Über 100 Splitter im Gesicht"

Am 9. Juni 2004 detonierte in der Keupstraße in Köln eine Bombe. 22 Menschen wurden verletzt, viele kämpfen bis heute mit den Folgen. Nun sagten sie im NSU-Prozess aus. Die meisten Angeklagten blieben ungerührt.

Die Erinnerung belastet den jungen Mann schwer. „Wir haben Essen geholt, sind raus aus dem Restaurant. Ich wollte gerade reinbeißen, da gab’s nen Knall“, sagt Melih K. mit monotoner Stimme. „Es hat mich umgehauen, ich lag’ vor der Türe des Friseurladen. Ich habe gesehen, dass Balken schräg hingen und alles in Schutt und Asche war.“ Der 31-Jährige ging am Nachmittag des 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße genau in dem Moment an dem Friseursalon vorbei, als auf einem dort abgestellten Fahrrad eine Nagelbombe explodierte. Melih K. und sein neben ihm laufender Freund bekamen die Explosion mit voller Wucht ab. Dass die beiden Männer noch leben, scheint fast ein übernatürliches Phänomen zu sein.

Melih K. und sein Freund Sandro D. haben am Dienstag im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München ausgesagt. Sie sind die ersten Opfer, die der 6. Strafsenat hört zum Anschlag in der von türkischen Läden, Restaurants und Mietern geprägten Keupstraße. Die Tat der rechtsextremen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wühlt auch heute noch viele Menschen auf.

Schon vor Beginn des Prozesstages, es ist der 175., beginnt in einer Straße am Gericht ein „Aktionstag“ der Initiative „Keupstraße ist überall“. Auf einem Transparent steht, „Das Schweigen brechen! NSU-Terror: Staat & Nazis Hand in Hand“. Vor acht Uhr und damit zwei Stunden vor Beginn der Hauptverhandlung ist die Zuschauertribüne fast voll, dennoch warten draußen noch reichlich Leute vor dem Eingang, Türken und Deutsche. Der Beginn der Aussagen der Opfer aus Köln wird als ein besonders wichtiger Tat im NSU-Prozess wahrgenommen.

22 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt

Die Aussagen von Melih K. und Sandro D. sind auch, wie zu erwarten war, erschütternd. Er habe neun Nägel abbekommen, sagt Melih K., „und ich hatte über 100 Splitter im Gesicht“. Außerdem erlitt er durch die Stichflamme Verbrennungen im Gesicht. Die Fotos, die der Strafsenat zeigen lässt, sind kaum zu ertragen.

Mundlos und Böhnhardt hatten die Bombe mit hunderten Zimmermannsnägeln gespickt, jeder zehn Zentimeter lang. Die Detonation der fünfeinhalb Kilo Sprengstoff, ferngezündet per Funk, war so heftig, dass Nägel sogar über Hausdächer flogen und in Hinterhöfen landeten. Vergangene Woche schilderten Polizisten solche beklemmenden Details. Und nun kommen die Opfer zu Wort. Noch wochenlang. Bei dem Anschlag wurden 22 Menschen verletzt.

„Ich hatte Nägel in den Beinen und im Rücken“, sagt Sandro D., „zwei Finger waren fast ab, ich hatte Verbrennungen“. Der 35-Jährige musste wie sein Freund Melih K. mehrere Operationen überstehen – und den Verdacht der Polizei, sie beide hätten die Bombe auf dem  Fahrrad platziert, die dann zu früh gezündet hätte. Mehrere Tage habe er von der Intensivstation aus Melih nicht anrufen dürfen, sagt Sandro D., auch darunter habe er gelitten. Aber er macht der Polizei keine Vorwürfe. Melih K. auch nicht, aber er betont, er habe den Beamten seine Vermutung geäußert, dass die Tat „aus der rechten Szene kommt“.

Beide Opfer leiden noch heute unter Schmerzen. Und es quält sie, durch viele Narben entstellt zu sein. Nach dem Anschlag musste Melih K. seine Ausbildung aufgeben, erst nach Jahren fand er wieder einen Job. Sandro K. hat keinen. Beide Männer befinden sich in psychologischer Behandlung. Und sie sind nicht die einzigen Opfer, die den Horror nicht loswerden.

„Wir waren blutüberströmt“

Am Nachmittag treten im Prozess zwei weitere türkischstämmige Männer auf, die bei dem Anschlag schwer getroffen wurden. „Es waren mehrere Nägel und Glassplitter im Körper“, sagt Sükrü A. Der 59-Jährige hat als Kunde in dem Friseursalon gesessen, vor dem das Fahrrad mit der Bombe in die Luft flog. Auf seiner Stirnglatze ist eine große Narbe zu sehen. „Ich habe Schwindelgefühle“, sagt Sükrü A., „ich kann nachts nicht schlafen, ich kann nicht in die Bevölkerung gehen, da krieg ich Panikattacken, ich schwitze“. Er befinde sich ständig in psychiatrischer Behandlung, arbeiten könne er seit dem Anschlag nicht mehr. „Die Lebensqualität ist total runtergegangen“, sagt Sükrü A.

Kemal G. befand sich am Nachmittag des 9. Juni 2004 auch im Friseurladen. „Es knallte, alle Glasscherben sind auf uns runtergefallen“, erinnert sich der 35-Jährige, „alles war verwüstet“. Er und die anderen Leute im Geschäft hätten sich nach der Explosion nach hinten geflüchtet, „wir waren blutüberströmt“. Er habe gedacht, „ich würde in Kürze sterben“. Im Krankenhaus wurden die Glassplitter aus seinem Kopf herausoperiert, glücklicherweise hatte keiner der umherfliegenden Nägel Kemal G. getroffen. Doch der Anschlag „war ein Wendepunkt in meinem Leben“. Ein besonders bitterer. Kemal G. war als Flüchtling nach Deutschland gekommen, um Schutz vor der ihm drohenden Verfolgung in der Türkei zu finden. „Es ist leider so gekommen, dass ich die Leiden, die ich in der Türkei nicht erlitten habe, in Deutschland erleiden musste.“

Er verlor 2007 seine Arbeit, da er sich oft krank meldete. Vielleicht wäre es besser gewesen, Kemal G. hätte seiner Firma den wahren Grund seiner Auszeiten genannt, die Angstzustände und weiteren psychischen Probleme. Aber er nannte Halsschmerzen und andere, vergleichsweise harmlose Beschwerden. „Ich wollte nicht zugeben, dass ich psychisch erkrankt war“, sagt er, „das war schwer für mich“.

Nachdem er länger gar nicht gearbeitet hatte, machte sich Kemal G. selbstständig. Er betrieb einen Kiosk, aber die Probleme im Kopf ließen nicht nach. „Ich hatte abends immer Angst, es könnten Leute kommen und mir was antun“, sagt er. Den Kiosk gab er auf. Und versuchte doch nochmal, zu arbeiten. Seit mehr als einem Jahr hat Kemal G. einen Job. Er will durchhalten. Mit Hilfe eines Psychotherapeuten, der ihn wegen der nicht enden wollenden Traumata behandelt.

Beate Zschäpe und die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André E. und Holger G. blicken ausdruckslos auf die Zeugen. Nur Carsten S., der gestanden hat,  Mundlos und Böhnhardt die Waffe geliefert zu haben, mit denen die beiden neun Migranten erschossen, wirkt bedrückt.

Frank Jansen

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