Liu Xiaobo und andere Helden: Wie eine Insel im Meer
Wahrheit, Freiheit, Gleichheit: Fast wie ein Wunder wirkt es, dass immer wieder Menschen aufstehen, die dafür kämpfen. Liu Xiaobo war ein solcher Held. Ein Kommentar.
Kein Mensch ist nur gut, selbst die Guten sind es nicht. Alexander Solschenizyn, Literaturnobelpreisträger, beschrieb im „Archipel Gulag“ detailliert die Verbrechen des Stalinismus, begrüßte später aber den Tschetschenienkrieg von Wladimir Putin. Mutter Teresa, Friedensnobelpreisträgerin, half in Indien den Armen, Kranken und Bedürftigen, sah sich aber dem Vorwurf ausgesetzt, das Motiv der Mission über das der Nächstenliebe gestellt zu haben.
Lech Walesa, Friedensnobelpreisträger, trug als Vorsitzender der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc wesentlich zum freiheitlichen Wandel in Osteuropa bei, hatte in den siebziger Jahren aber intensive Kontakte zum kommunistisch kontrollierten Geheimdienst, über die er selbst sagte, dabei „nicht ganz sauber“ geblieben zu sein. Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin, kämpft seit drei Jahrzehnten für eine Demokratisierung von Myanmar, schweigt aber zum Völkermord an den Rohingya, einer muslimischen Minderheit in ihrem Land.
Wenn Menschen zu Helden werden, bleiben sie eben immer auch - Menschen. Sie machen Fehler, können irren. Selbst Religionsstifter hatten schwache Momente. Und doch wäre es falsch, ja geradezu töricht, dies zum Anlass zu nehmen, das Große, für das diese Menschen stehen, kleinzureden. Denn das Große ist das, was von ihnen bleibt und bleiben soll. Von Nelson Mandela wie von Rosa Parks. Von Mahatma Gandhi wie von Martin Luther King. Von Dietrich Bonhoeffer wie von Shirin Ebadi. Der Blick der Nachwelt auf diese Menschen sollte nicht verklärt sein. Aber Angst vor Heldenverehrung muss auch niemand haben. Und keine Scheu vor diesem erhabenem Wort - der Held, die Heldin.
Liu Xiaobo war ein solcher Held. Er dachte, schrieb, warb für die Freiheit. Leise, gewaltlos, beharrlich. Das reichte, um die Mächtigen Chinas bis zur Unversöhnlichkeit zu reizen. Die Diskrepanz aus der einfachen Verkündung des Wortes und der brutalen Härte des Regimes verlieh dem Wort des Philosophen Gewicht und offenbarte die Fragilität des Regimes.
Was ist das bloß für eine Herrschaft, die das freundliche Lächeln eines Schriftstellers nicht erträgt, dessen Sehnsucht nach Gedanken- und Meinungsfreiheit? China mag ein großes, erfolgreiches und geschichtsträchtiges Land sein. Dass dessen Regenten daraus aber weder Toleranz erwächst noch jene Souveränität, die sie im Inneren gelassen macht, lässt sie kalt und schwach wirken. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, heißt es hellsichtig im „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht.
Wie viel bequemer wäre es, sich zu fügen?
Wahrheit, Freiheit, Gleichheit: Fast wie ein Wunder wirkt es, dass immer wieder Menschen aufstehen, die dafür kämpfen - und die aufbegehren gegen Unterdrückung, Drangsal, Not. Wie viel einfacher wäre das Leben ohne diesen Kampf, der so oft aussichtslos zu sein scheint? Wie viel bequemer wäre es, sich zu fügen, die Dinge hinzunehmen und zu erdulden?
Doch irgendetwas in diesen Helden sagt: „Nein, ohne mich, so geht’s nicht weiter.“ Sie wollen in den Spiegel schauen können, ohne dass der, den sie dort sehen, ihnen peinlich ist. Sie wollen dem „Rad in die Speichen fallen“, wie es Bonhoeffer formuliert hat.
Diese besonderen Charaktere stehen plötzlich im Rampenlicht, einige werden bewundert, manche benutzt, viele erst von der Nachwelt gewürdigt. In ihrem Schatten indes gibt es Tausende, über die keiner spricht. Tausende, die selbst bedroht oder bereits eingekerkert sind und die das Pech haben, unbeobachtet zu sein vom Gewissen der Welt. Das ist unfair. Doch leider sind die Aufmerksamkeitskapazitäten des Weltgewissens begrenzt. Im Meer des Leidens pickt es sich ein paar Inseln heraus, an die es seine Hoffnungen hängt.
Auch Liu Xiaobo war eine solche Insel. Er war? Nein, er ist. Denn das, wofür er steht, überdauert seinen Tod. Seine Worte hallen nach und werden vom Echo derer verstärkt, die sie selbst lesen oder hören. Liu Xiaobos Kraft und Geduld überfordern die meisten von uns. Aber seine Botschaft weitertragen, das können wir.