zum Hauptinhalt
Über keinem Gipfel ist Ruh' - und es sind viele mit Bund, Ländern und Kommunen.
© Michael Kappeler/dpa
Update

Welchen Bundesstaat wollen wir?: Wie die Fische in der Reuse

Der geplante Ausbau des verflochtenen, kooperativen Bundesstaats ist ein Irrtum. Er lähmt Autonomie - und Demokratie. Ein Essay.

Ein Essay von Albert Funk

Am vergangenen Mittwoch sollten sie eigentlich beieinander sitzen. Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin. Es wäre die reguläre halbjährliche Runde gewesen und keiner der Not- oder Themengipfel, die in den vergangenen Jahren immer zahlreicher geworden sind. Das Regieren mit den Länderchefs in einer Art Dauergipfelei ist ein Merkmal der Ära von Angela Merkel. 2005, als sie Kanzlerin wurde, war keiner der heutigen Ministerpräsidenten schon im Amt. Merkel hätte also über Erlebtes plaudern können, nach dem Motto: Oma erzählt. Nicht vom Krieg, aber vielleicht von der Reform. Immerhin begann ihre Amtszeit mit einem verfassungspolitischen Mega-Projekt: der Bundesstaatsreform, welche die neue große Koalition als erstes großes Vorhaben ins Werk setzte. Aber dann hat Merkel abgesagt - sie fliegt zur Beerdigung von George Bush in die USA. Tote US-Präsidenten gehen lebenden deutschen Ministerpräsidenten schon mal vor.

Das große Reformvorhaben war zu rot-grünen Zeiten in einer eigens eingesetzten Runde, der Föderalismuskommission, auch „FöKo“ genannt , vorbereitet worden. Es ging vor allem um Entflechtung, um mehr Transparenz, um eine klarere Zuordnung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Bundesstaat. Alle wollten raus aus dem System, das Politologen als „kooperativen Föderalismus“ bezeichnen. Aus dem ewigen Miteinander, das in den 1960er Jahre als neueste Mode gegolten hatte und schon 20 Jahre später alle Beteiligten anödete, weil die Mode sich als aufwändig erwies, als teuer und als unproduktiv.

Entflechtung lautete einst das Motto

Das Motto lautete daher: raus aus den Gemeinschaftsaufgaben, raus aus den Mischfinanzierungen, raus aus der Rahmengesetzgebung des Bundes. Der Bundesrat sollte nicht mehr so sehr als Bremserhäuschen der Bundespolitik wahrgenommen werden. Bundesregierung und Bundestag sollten den Landesregierungen und Landtagen nicht mehr so viel hineinregieren. Man wollte dem Kernelement des Föderalismus, der Autonomie der Akteure, wieder Luft verschaffen. Zunächst sah es so aus, als ob man eine solche Verfassungsreform, eine echte Entflechtung hinbekommen würde. Aber dann tönte Noch-Kanzler Gerhard Schröder, man dürfe den Bundesstaat jetzt nicht zum Staatenbund umbauen. Die Bundesregierung witterte einen Machtverlust. Das Ergebnis in der „FöKo“ fiel weniger mutig aus.

Das alles ist Geschichte. Denn das „Rollback“ ist fast vollendet. Die Reform von 2005, ohnehin nicht der von manchen erhoffte große Wurf, ist spätestens mit der vom Bundestag am vergangenen Donnerstag beschlossenen Grundgesetzänderung praktisch erledigt. Was mit Merkel begann, endet mit Merkel. Der Föderalismus soll wieder kooperativer angelegt werden, die Verflechtung darf wieder zunehmen. Ob in der Bildungspolitik (Stichwort:Digitalpakt), beim sozialen Wohnungsbau, in der regionalen Verkehrspolitik. In einem begleitenden „Pakt für den Rechtsstaat“ wird auch in der Justiz versucht, die föderale Differenzierung aufzubrechen zugunsten einer Bundessteuerung.

Massiver Widerstand im Bundesrat

Ob Bundesregierung und Bundestag sich durchsetzen, ist noch lange nicht ausgemacht. Die Länder fordern eine Überarbeitung des Entwurfs und streben ein Vermittlungsverfahren an. Am vergangenen Mittwoch hätte nicht nur Oma von der Reform erzählen können. Opa wäre nämlich auch präsent gewesen. Winfried Kretschmann ist zwar erst 2011 als Ministerpräsident ins föderale Regierungsgeschäft eingestiegen, aber er war einst in der „FöKo“ dabei, als Vertreter der Landtage. Er ist ein strammer Verfechter der Entflechtung geblieben. Vor der Sommerpause schon hielt der Schwabe seinen Kollegen im Bundesrat eine Standpauke, weil sie aus seiner Sicht dem Bund auf den Leim gehen. In der Ministerpräsidentenkonferenz vor einigen Wochen ebenfalls. Kretschmann will die Grundgesetzänderung nicht, welche die kooperative Sause wieder zum Normalzustand machen soll. Das Werben von Genossen hat zumindest im Unions-Lager funktioniert. Weil die Haushälter im Bundestag nachträglich noch die Bedingung in die Grundgesetzreform einbrachten, Bundesmittel müssten hälftig kofinanziert werden bei Kooperationsprojekten, sind nun sogar alle Länderchefs auf Ablehnungskurs.

Man hätte also ein Thema gehabt am vergangenen Mittwoch, das ausführlich diskutiert werden könnte: Wie stellen wir den Bundesstaat denn nun auf? Soll es wirklich ein Zurück zum kooperativen Dauermiteinander früherer Zeiten geben? Oder sollte man innehalten und einfach mal überlegen, ob diese Entwicklung nicht üble Folgen haben könnte? Denn die 16 Ministerpräsidenten, die sich mit der Kanzlerin dann eben demnächst wieder treffen, stehen für mittlerweile 13 unterschiedliche Regierungskoalitionen, nachdem Bayern nun auch keine Alleinregierung mehr hat. Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Rot-Schwarz, Grün-Schwarz, Schwarz-Grün, Jamaika und so weiter. Das ist keine Katastrophe. Es ist das Ergebnis von Wahlen. Aber es macht das Regierungsgeschäft schwerer. Der neue Bundesratspräsident Daniel Günther aus Schleswig-Holstein hat das gerade erst in seiner Antrittsrede in der Länderkammer angesprochen.

Viele Parteien, viel Aufwand

Eine Vielzahl von Koalitionen bedeutet einen erheblichen Aufwand an Koordinierung schon zwischen den Ländern im Bundesrat. Die dann, weil ja auch die Bundestagsopposition immer irgendwo mitregiert, in den Bundestag und seine Gesetzgebung hineinschwappt. Die Frage ist: Kann man das kooperative Regieren wirklich ausbauen, wenn es im Parteiensystem diese Entwicklung zu immer mehr Beteiligten gibt? Oder sollte man nicht Verflechtung und Verdickung verringern, um genau das auszugleichen? Sollen die vielen Köche an einem Brei rühren? Oder jeder an seinem Herd?

Eine verfassungspolitische Folge der größeren Parteien- und Koalitionsvielfalt hat man in den vergangenen Jahren gesehen: Die Koordinierungserfordernisse bedeuten, dass sich Absprachen und Entscheidungen vor die Gesetzgebungsverfahren verlagern können. Dass ein parteiübergreifender Konsens eruiert und hergestellt wird, bevor man in den Bundestag und den Bundesrat geht. Dabei bekamen Parteirunden und die Ministerpräsidentenkonferenz zusätzliche Macht. Eingerichtet, um Koordinierung zwischen den Ländern zu erleichtern, ist die „MPK“ immer mehr zu einem Bundesratsersatz geworden. Eine weitere Folge ist die Verelendung des Vermittlungsverfahrens, also der in der Verfassung vorgesehenen Form der Konfliktaustragung am Ende von Gesetzgebungsverfahren. Es ruht seit Jahren, aber es sieht so aus, dass es im aktuellen Zwist um die Grundgesetzänderung wieder aufersteht.

Ein belastendes Relikt

Diese Flucht aus der Verfassung ist auch ein Kennzeichen der Ära Merkel. Die Exekutiven und die Parteigremien haben gegenüber den Parlamenten an Macht gewonnen. Und das verstärkt ein uraltes Problem. Der deutsche Bundesstaat schleppt nämlich noch immer ein Relikt mit sich herum, das aus dem Kaiserreich stammt und im kooperativen Modell nur ein moderneres Design bekam. Schon damals kam es vor, dass die Regierungen des Reiches und der Länder sich verständigten und koordinierten und auf einheitliche Lösungen setzten – auch um die zur Mitbestimmung drängenden Parlamente im Zaum halten zu können. Max Weber nannte das eine „Gegenseitigkeitsversicherung“ der Exekutiven mit dem Ziel „weitgehender Kontrollfreiheit der Bürokratie“.

Der moderne kooperative Föderalismus ist in seinem Wesenskern ebenfalls antiparlamentarisch, auch wenn sich mittlerweile die Fachministerien des Bundes und der Länder mit Fachpolitikern in den Parlamenten verbünden, um quer zu den Zuständigkeiten und über alle Haushalte hinweg über gemeinsame Programme so viel Geld wie möglich für das jeweils eigene Feld abzuzweigen. Das Gesamtparlament als Haushaltsgesetzgeber wird so mannigfaltig gebunden. Das Ergebnis: Es wird teurer als nötig, es wird undurchsichtig, es fehlt an klarer, nachvollziehbarer Verantwortlichkeit. Man mindert das demokratische Recht der Bürger, verstehen zu können, wer eigentlich wofür tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden kann. Im Zweifelsfall deuten sie alle, Bund, Länder, Kommunen, jeweils auf die anderen.

Kooperationsüberschuss = Autonomiedefizit

Ein Kooperationsüberschuss im Bundesstaat führt zwangsläufig zu einem Autonomiedefizit auf allen Ebenen. Verstärkt wird das noch, wenn der Bund als gefühlter Zahlmeister den Ländern und Kommunen noch zusätzliche Kontrollmaßnahmen zumutet und Berichtspflichten aufbürdet. Was wiederum den Zentralsteuerungsambitionen der Bundesexekutive und des Bundesrechnungshofs entgegenkommt. Die Stärke des Föderalismus liegt aber nicht im Zusammenballen von Politik und Entscheidungsfindung, sondern in der Delegierung von Aufgaben und Problemlösung an mehrere Akteure. Die dann aber, sonst macht das ja keinen Sinn, auch autonom im Rahmen des Ganzen handeln dürfen. Für Außenpolitik und Verteidigung etwa ist der Bund zuständig, auch für die großen Sozialversicherungssysteme und die großen Linien der Umwelt- und Energiepolitik. Da streitet niemand darüber, und die Länder reden da auch nicht hinein. Konjunkturpolitik gehört auch dazu. Warum der Bund aber Schulpolitik machen soll, ob nun bei der digitalen Ausstattung, der Bausanierung oder auch der Unterrichtsgestaltung, erschließt sich nicht. Das ist bei den Kommunen als Schulträgern und den Ländern als Gesetzgebern gut aufgehoben. Was hat er im sozialen Wohnungsbau zu suchen? Der ist ebenfalls eine rein kommunale oder regionale Angelegenheit. Gleiches gilt beim regionalen Personennahverkehr. Und man kann noch einiges mehr finden. Straßenbau etwa. Da hat man in einem Akt föderaler Blindheit die Gesamtverwaltung der regionalen Netze durch die Länder zerschlagen und eine Autobahngesellschaft des Bundes gegründet, von der keiner weiß, ob sie jemals gut funktionieren wird.

Findet Nation nur in Berlin statt?

Aber Bildung, heißt es gelegentlich pompös über das Hauptkampffeld, sei doch eine nationale Zukunftsaufgabe. Also müsse der Bund mit ran. Doch warum? Findet Nation nur in Berlin statt? Es wäre ja noch schöner. In einer demokratischen Bürgergesellschaft, die das Einheits- und Einheitlichkeitsdenken früherer Zeiten überwunden hat und föderale Autonomie als Chance für mehr Freiheit in einem Land begreift, wird überall gesamtstaatlich oder national gehandelt. Auch in Ländern und Kommunen. Und zwar so, wie man es jeweils für richtig und verantwortbar hält.

Der Reformveteran Kretschmann hat unlängst wieder darauf verwiesen, dass das Grundgesetz eine ganz einfache Lösung parat hat, wenn die Meinung aufkommt, eine staatliche Ebene, ob nun Bund, Länder oder Kommunen, habe zu wenig Geld für die Aufgabenerfüllung. Es ist der Artikel 106. Dort steht, ganz allgemeinverständlich, dass Bund und Länder „gleichmäßig“ Anspruch hätten „auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben“ durch Steuern. Der Umfang sei „unter Berücksichtigung einer mehrjährigen Finanzplanung zu ermitteln“. Wer wie viel bekommen muss, soll so aufeinander abgestimmt werden, dass „ein billiger Ausgleich“ erzielt wird, also keine Seite die andere über den Tisch zieht. Eine „Überbelastung der Steuerpflichtigen“ soll vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt werden. Es geht also, ganz simpel, um eine gerechte und sinnvolle Steuerverteilung.

Gefitzel statt klarer Linie

Hier dürfen sie nun gern kooperieren und koordinieren. Es würde genügen, das alle paar Jahre zu tun. Es wäre nicht einfach, aber es würde sich lohnen. Doch dieses Vorgehen nach Artikel 106 findet nicht statt. Es ist eine tote Ecke der Verfassung. Man überlässt den Ausgleich den fortlaufenden Aushandlungsprozessen im Tagesgeschäft, was das permanente föderale Hin und Her, das Auflaufen ganzer Hundertschaften von Landespolitikern bei Koalitionsverhandlungen im Bund und die Gipfeleien mit der Kanzlerin erklären hilft. Der Bund mit seinem Riesenetat ist natürlich immer der dominierende Partner.

Der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf, einst Berater der „FöKo“, ist in seiner Branche und auch ein bisschen darüber hinaus schon vor vielen Jahren mit einem Begriff berühmt geworden: Politikverflechtungsfalle. Damit ist der Zustand beschrieben, wenn die Entscheidungsfindung im kooperativen Modell schwierig wird. Dann drohen Verlangsamung, Blockade, ewige Streiterei. Dem wurde oft entgegengehalten, die Falle sei nie zugeschnappt, die große Konsensmaschine habe immer funktioniert. Das ist richtig, wenn man sich die Sache wie eine Mausefalle vorstellt. Bei der es einmal rumst, und aus ist’s. Tatsächlich funktioniert die Politikverflechtungsfalle aber wie eine Reuse: Die Fische im föderalen Teich geraten hinein und kommen nie wieder heraus. Auf ewig verdammt, umeinander herum zu schwimmen. Ganz kooperativ. Wer’s mag...

Zur Startseite