Armenien-Resolution: Wie die Bundesregierung der Türkei entgegenkommt
Kniefall oder Vernunft? Für die Bundesregierung ist die Armenien-Resolution rechtlich nicht bindend. Wir erklären, was das für die Beziehungen zur Türkei bedeutet.
Die Meldung erregte das politische Berlin: Die Bundesregierung wolle sich von der Armenien-Resolution des Bundestages distanzieren, meldete „Spiegel online“ am Freitagvormittag. Wenig später konterte Regierungssprecher Steffen Seibert: „Davon kann keine Rede sein.“ Deutlich wurde in seinen Ausführungen aber, dass es im heiklen deutsch-türkischen Verhältnis auf jedes Wort ankommt. Die Opposition kritisiert, die Kanzlerin mache einen Kotau vor dem Autokraten und Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Inwiefern nimmt die Bundesregierung auf türkische Empfindlichkeiten Rücksicht?
Die Türkei hatte nach Angaben von Seibert in Gesprächen mit deutschen Vertretern immer wieder die Frage gestellt, welche Rechtswirkung die von ihr abgelehnte Armenien-Resolution des Bundestages habe. Öffentliche Antwort nun: Der Bundestag selbst hält Resolutionen nicht für rechtlich bindend. Die Bundesregierung sendet damit ein versöhnliches Signal an Ankara, macht aber kein inhaltliches Zugeständnis. Auch einer der Initiatoren des Parlamentsvotums, der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan, sagte, der Bundestag habe die Resolution „immer als politische Äußerung und nicht als völkerrechtlich bindende Erklärung angesehen“.
Welche Folgen hatte die Resolution?
Die Resolution von Anfang Juni stufte die Verbrechen an den Armeniern im Ersten Weltkrieg als Völkermord ein – ein Urteil, das nach Ankaras Auffassung nur Historikern zukommt. Türkische Politiker nannten die Entscheidung „lächerlich“ und warnten vor Schaden für die deutschtürkischen Beziehungen. Der türkische Botschafter wurde aus Berlin abgezogen, Präsident Tayyip Recep Erdogan beschimpfte türkischstämmige Bundestagsabgeordnete. Außerdem erklärte Ankara, Bundestagsabgeordnete dürften die in Incirlik im Südosten des Landes stationierten Bundeswehrsoldaten nicht mehr besuchen, bis sich die Regierung in Berlin von der Resolution distanziere.
Warum hat die Führung in Ankara so große Probleme mit dem Votum des Bundestags?
Schon lange vor dem Regierungsantritt der Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan im Jahr 2002 bemühte sich die Türkei, eine breite internationale Anerkennung des armenischen Völkermords insbesondere im Westen zu verhindern. Dass eine Führungsmacht wie Deutschland, die im Ersten Weltkrieg mit den Türken verbündet war, sich dem Vorwurf des Genozids anschloss, war ein besonders herber Rückschlag für Ankara. Dahinter steckte zum einen die Sorge, Armenien könnte aus einer Anerkennung mögliche Gebiets- und Reparationsforderungen entwickeln.
Noch wichtiger ist aber: Die Türken betrachten sich als „historisch saubere Nation“, wie es der deutsche Historiker Christoph K. Neumann einmal formuliert hat. Das gilt auch für die Zeit vor der Gründung der Republik 1923 – so wird die lange Osmanenherrschaft in der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung als goldene Ära gesehen. Noch heute wird den Armeniern vorgeworfen, sich damals gegen das Reich erhoben und mit den vorrückenden Russen gemeinsame Sache gemacht zu haben. Die Vertreibung der Armenier erscheint aus diesem Blickwinkel als notwendige Maßnahme zur Landesverteidigung. Der Vorwurf des Völkermords ist für die offizielle Türkei also eine schwere Beleidigung.
Was will die Türkei erreichen?
Den Politikern in Ankara ist klar, dass der Bundestagsbeschluss vom 2. Juni nicht mehr rückgängig zu machen ist. Eine offizielle Distanzierung der Bundesregierung von der Parlamentsresolution wäre deshalb ein wichtiger diplomatischer und psychologischer Erfolg für Erdogan. Um dieses Ziel zu erreichen, verwehrt die Türkei deutschen Abgeordneten den Besuch der Bundeswehrsoldaten auf der südtürkischen Luftwaffenbasis Incirlik. Auch erhält der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, Berichten zufolge seit Juni kaum noch Zugang zu wichtigen Regierungsvertretern. „Deutschland lenkt ein“, verkündete die regierungstreue türkische Zeitung „Star“ am Freitag bereits.
Sollte sich Erdogan durchsetzen, wäre das auch aus einem anderen Grund wichtig für Ankara. Regierungsanhänger werfen dem Westen vor, den Aufstieg der Regionalmacht Türkei torpedieren zu wollen. Hinweise darauf sehen die Regierungsunterstützer überall: in der Syrien-Politik, im Verhalten der EU nach dem Putschversuch und beim Thema Armenien. Wenn nun ein wichtiger Staat wie Deutschland den Völkermords-Beschluss des eigenen Parlamentes relativieren sollte, dann wäre das aus Sicht der türkischen Regierung ein Beweis dafür, dass die Bedeutung des Landes auf der internationalen Bühne trotz aller Widrigkeiten zunimmt.
Nach den diplomatischen Entspannungsversuchen der Bundesregierung unternehmen Bundestagsabgeordnete einen neuen Versuch, die deutschen Soldaten auf dem Nato-Stützpunkt im türkischen Incirlik zu besuchen. Die Reiseplanung der Verteidigungspolitiker stehe, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold, der „Frankfurter Rundschau“ (Samstag). „Wir wollen am 4. Oktober in die Türkei fliegen.“
Stellt Ankara das Flüchtlingsabkommen infrage?
Obwohl die Armenier-Frage für die türkische Außenpolitik so wichtig ist, hat Ankara in der Vergangenheit mehrmals bewiesen, dass nicht alles diesem Thema untergeordnet wird. Vor fünf Jahren hatte die Türkei vorübergehend ihren Botschafter aus Frankreich abberufen, nachdem die Pariser Nationalversammlung ein strafrechtliches Verbot der Leugnung des Völkermordes beschlossen hatte. Im vergangenen Jahr rief Ankara auch den türkischen Botschafter beim Vatikan zurück, weil Papst Franziskus die Massaker an den Armeniern als „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ gegeißelt hatte. Inzwischen sind die beiden Botschafterposten wieder besetzt.
Dass die Türkei nun aus Verärgerung über den Bundestagsbeschluss das Flüchtlingsabkommen zur Disposition stellt, ist also eher unwahrscheinlich. Erstens hätte Ankara dies schon nach der Bundestagsentscheidung im Juni tun können. Zweitens dient das Abkommen auch türkischen Interessen, weil es Flüchtlingen und Schlepperbanden signalisiert, dass das Land keine bequeme Durchgangsstation auf dem Weg nach Europa mehr ist. Trotzdem ist es möglich, dass türkische Politiker versuchen werden, mit Hinweisen auf den Flüchtlingsdeal den Druck auf Berlin zu erhöhen.
Wie stehen Deutschland und Europa zum Deal?
Als Land von hoher Attraktivität für Schutzsuchende und Land mit den höchsten Flüchtlingszahlen in Europa hat die Bundesrepublik ein besonderes Interesse an dem Abkommen, das aber die gesamte EU mit Ankara abgeschlossen hat. Die Türkei soll die Seegrenze zu Griechenland kontrollieren und Flüchtlinge zurücknehmen, dafür zahlt die EU Milliardenbeträge zur Unterstützung der drei Millionen syrischen Vertriebenen im Land. Die EU versprach, die Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen und die Visapflicht abzuschaffen – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Türkei die Antiterrorgesetze entschärft.
Obwohl die harte Reaktion Ankaras auf den Militärputsch die Lage eher noch verschärft hat, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz bei seinem Besuch in Ankara am Donnerstag, er sehe keine unüberwindlichen Hürden im Streit um die Anti-Terror-Gesetze. Auch die Bundesregierung hat ungeachtet der autokratischen Tendenzen nach der Niederschlagung des Putsches immer wieder versichert, sie halte an dem Abkommen fest und glaube an dessen Erfolg. Andere reagierten härter. So erklärte die österreichische Regierung die Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei sei illusorisch.
Warum hält die Bundesregierung am Bündnis mit Ankara fest?
Schon vor dem Flüchtlingsabkommen bestanden Abhängigkeiten, auf die Merkels Regierung viel Rücksicht nahm: In Deutschland leben rund drei Millionen türkischstämmige Bürger, deren Integration in dem Moment gefährdet wäre, wenn Erdogan und die Bundesregierung sich überwerfen würden. Sicherheitspolitisch ist die Türkei der Vorposten der Nato, sie grenzt an die Krisenstaaten Syrien und Irak, in denen er „Islamische Staat“ wütet, der nicht nur die Region, sondern den Westen bedroht. Auch im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ kommt der Türkei eine zentrale Rolle zu.
Das deutsche und amerikanische Kalkül lautet: Wir müssen trotz massiver Bedrohung der Demokratie in der Türkei die Partnerschaft aufrecht erhalten, weil wir auf eine undemokratische Türkei, die noch mit dem Westen spricht, besser Einfluss nehmen können als auf eine Türkei, die sich vom Westen völlig lossagt. Laut der Deutschen Presseagentur befürchtet die Nato konkret, die Fortsetzung des Streits um die Resolution könnte Ausweitung des Einsatzes gegen den IS gefährden. Viel spricht daher dafür, dass die Bundesregierung mit ihrer Versöhnungsgeste auch einer Bitte ihrer Nato-Partner folgt. (mit dpa)