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Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD)
© Reuters/Axel Schmidt

Steuerminus von 100 Milliarden Euro: Wer soll die Corona-Rechnung bezahlen?

Die Steuerschätzung ist wie ein Blick in ein Schwarzes Loch. Die Rücklagen der Sozialkassen schwinden. Die Coronakrise bringt den Staat an seine Grenzen.

Im Auge des Orkans ist es bekanntlich still. Besonders still wirkt dieser Tage das Finanzministerium. Viele Mitarbeiter sind im Homeoffice. Und es passt ins Bild, dass der Dienstherr wegen eines Wasserschadens in seinem Büro wochenlang in einen anderen Trakt ausweichen musste.

Olaf Scholz versucht Ruhe auszustrahlen wo er kann. Kein Interview, in dem er nicht die „Bazooka“ erwähnt, mit der er versucht, die Einbrüche durch den Corona-bedingten Stillstand zu bekämpfen. Schweren Schaden genommen haben auch die Staatsfinanzen. Keiner weiß, welchen Schaden dieser unkontrollierte „Wassereinbruch“ der Pandemie anrichtet.

Bei den Steuern – aber auch bei den Rücklagen in den Sozialkassen, die in Rekordgeschwindigkeit aufgebraucht werden. Der Staat kommt an Grenzen, doch Steuer- oder Abgabenerhöhungen gelten in einer Krise als falsche Maßnahme.

Wie groß wird das Steuerminus?

Wo in den vergangenen Jahren die Einnahmen von Bund, Ländern und Kommunen Jahr für Jahr stiegen, geht es nun drastisch abwärts. Der Arbeitskreis Steuerschätzung wird von Dienstag bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse am Donnerstag in seiner 157. Sitzung mit so vielen Unwägbarkeiten wie selten zu kämpfen haben.

Für den Gesamtstaat wird allein für das laufende Jahr mit einem Minus von rund 100 Milliarden Euro gerechnet, hervorgerufen durch die Folgen der Pandemie. Bisher war mit 816,4 Milliarden Euro an Einnahmen für dieses Jahr gerechnet worden.

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Dabei orientieren sich die Berechnungen an der jüngsten Projektion von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), wonach das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um mindestens 6,3 Prozent einbrechen wird. Scholz hatte bisher im Nachtragsetat mit um 33,5 Milliarden Euro geringeren Steuereinnahmen kalkuliert.

Jetzt geht es um die Corona-Rechnung.
Jetzt geht es um die Corona-Rechnung.
© imago images / Joko

Nun könnten es für den Bund bis zu 40 Milliarden Euro werden. Hinzu kommen gewaltige Einbrüche bei Ländern und Kommunen. Ein Beispiel: In Berlin lag das Minus bei der Gewerbesteuer im April im Vergleich zum Vorjahresmonat bei gut 90 Prozent.

Statt 73 Millionen Euro flossen nur fünf Millionen in die Landeskasse. Das Aufkommen der Umsatzsteuer sank um 37 Prozent; die Rückgänge bei Übernachtungs- und Vergnügungssteuer sowie der Spielbankabgabe lagen laut Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) bei 82 bis 100 Prozent gegenüber dem April 2019.

Braucht es noch einen Nachtragshaushalt?

Noch nicht, die Nettokreditaufnahme betrug 156 Milliarden Euro. Von den zum Beispiel veranschlagten 50 Milliarden Euro an Soforthilfen für Soloselbständige und Kleinstunternehmen sind erst rund zwölf Milliarden Euro ausgegeben.

Von den 55 Milliarden Euro globaler Mehrausgaben für Corona-Lasten wie höhere Zuschüsse für Intensivbetten, Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte sind rund 16 Milliarden Euro verbraucht. Wenn der Konsum nicht anspringt und so viele Menschen in Kurzarbeit bleiben, könnten noch mehr Schulden notwendig werden. Haushaltsstaatssekretär Gatzer hat die Vorlage des Haushaltsplans für 2021 vom Juni auf September verschoben, da es derzeit eine Rechnung mit zu vielen Unbekannten ist.

Wie groß ist das Loch in den Folgejahren?

Aus Koalitionskreisen heißt es, man rechne mit einem Minus bei den Steuereinnahmen von rund 300 Milliarden Euro bis zum Jahr 2024. Da viele Unternehmen ihre Steuer-Vorauszahlungen gestundet haben – oder wegen der Verluste auch in den Folgejahren kaum Steuern zahlen könnten – wird die eigentliche Herausforderung die Bewältigung der Folgejahre.

Denn durch eine höhere Arbeitslosigkeit werden die Sozialausgaben steigen, zudem schlagen bereits beschlossene Steuererleichterungen für Unternehmen und Branchen wie das Gastgewerbe genauso zu Buche wie geringere Lohnsteuereinnahmen aufgrund höherer Arbeitslosigkeit und durch millionenfache Kurzarbeit. Keiner weiß, ob Wirtschaft und Konsum wieder ins Laufen kommen, da viele Bürger aus Angst um ihren Arbeitsplatz weniger an ein neues Auto oder an eine neue Küche denken.

Kommen Steuererhöhungen?

Die Bundesregierung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verwehrt sich dieser Debatte bisher – der „Soli“ soll trotz allem spätestens 2021 für 90 Prozent der bisherigen Zahler wegfallen. Die Grundrente für Geringverdiener soll ab 2021 – womöglich ein paar Monate später – eingeführt werden.

Die SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans pochen auf die vor der Coronakrise verabredete Investitionsoffensive. Zudem ist ein milliardenschweres Konjunkturpaket geplant. Scholz will eine Reichensteuer, aber klar ist auch ihm: In Zeiten tiefer Krise sind Steuererhöhungen auf breiter Front Gift. Bleibt nur: Höhere Schulden auf längere Sicht in Kauf zu nehmen. Da das in ganz Europa der Fall ist, können Gefahren für die Stabilität der Währungsunion drohen.

Kann Deutschland höhere Schulden schultern?

Erstmal ja. Dank der sehr erfolgreichen Jahre ist die Staatsverschuldung unter 60 Prozent der Wirtschaftsleistung gesunken, Deutschland erfüllt wieder die Maastricht-Kriterien für die Stabilität des Euros. „Deshalb haben wir jetzt die Möglichkeit, kraftvoll zu handeln“, meint Scholz. „ Die Schuldenquote wird jetzt wohl auf mehr als 75 Prozent klettern.

Am Ende der letzten Finanzkrise lag sie übrigens bei über 80 Prozent. Da ist also noch Luft.“ Doch damals zahlte der deutsche Staat auch noch rund 40 Milliarden Zinsen für die Bedienung von Schulden. Diese sanken zuletzt auf elf bis zwölf Milliarden Euro, auch hier ist also wenig rauszuholen.

Der FDP-Haushaltsexperte Otto Fricke warnt bereits, dass versucht werden könnte, die Schuldenbremse, die wegen der Notlage vom Bundestag befristet ausgesetzt worden ist, dauerhaft zu kippen. Corona habe gezeigt, wie wichtig die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sei. „Diese hat in den letzten Jahren sogar die sonst ausgabenfreudige große Koalition dazu verpflichtet, die Schuldenquote des Bundes durch den Verzicht auf noch viel mehr Ausgaben zu senken.“

Nur dadurch gebe es jetzt die Finanzkraft, um die Rettungs- und Hilfsmaßnahmen zu finanzieren. „Daran sollten wir uns erinnern, wenn manche nach der Krise wieder damit beginnen, an der Schuldenbremse herumzufrickeln“, sagt Fricke.

Was ist mit den Kommunen?

Hier werden die Folgen schnell konkret werden, wenn es um Schulen, Theater und Schwimmbäder geht. „Die Haushalte der Städte werden durch die Coronakrise so stark belastet, wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte“, sagt Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages.

„Wir rechnen mit finanziellen Belastungen der Kommunen von mindestens 20 Milliarden Euro in diesem Jahr.“ Vor allem die Gewerbesteuer als eine der wichtigsten kommunalen Steuern breche massiv ein. „Wir gehen derzeit von mindestens 15 bis 20 Prozent weniger Gewerbesteuer im Bundesdurchschnitt aus.“

Zugleich steigen die Ausgaben, etwa für die Gesundheitsämter. „Deshalb fordern die Städte einen kommunalen Rettungsschirm von Bund und Ländern, mit Milliardenhilfen für die Kommunen.“ Scholz kann sich Hilfen vorstellen, aber er erinnert auch an die Grenzen staatlicher Belastbarkeit.

Welche Probleme gibt es noch?

Das Aufzehren der über Jahre angehäuften Rücklagen in Rekordgeschwindigkeit bereitet große Sorgen. Auch wenn rund zehn Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit sind, rechnet die Bundesregierung derzeit nicht damit, dass der Bund deswegen auch noch Steuerzuschüsse an die Bundesagentur für Arbeit (BA) zahlen muss.

In die Krise ist die BA mit einem Polster von rund 26 Milliarden Euro gegangen. Aus diesem Geld wird allerdings nicht nur das Kurzarbeitergeld bezahlt, sondern auch ein Teil des Arbeitslosengeldes für die Menschen, die in der Krise ihren Arbeitsplatz verlieren.

Sollten diese Reserven nicht reichen, müsste der Bund Steuergeld zuschießen. Eine Anhebung der Arbeitslosenbeiträge mitten in der Krise würde den Abschwung verschärfen und wäre für Arbeitnehmer und Arbeitgeber nur schwer zu stemmen. Die letzte Finanzkrise hat die Bundesagentur rund 23 Milliarden Euro an konjunkturellen Mitteln gekostet – diesmal könnte es weit mehr werden.

Was läuft noch aus dem Ruder?

Die Chefs der gesetzlichen Krankenkassen rechnen mit einem Zusatzbedarf von mehr als 14 Milliarden Euro allein für 2020. Wenn der Bund nicht mit Steuerzuschüssen einspringt, müsste sich der durchschnittliche Zusatzbeitrag für die Versicherten nahezu verdoppeln, heißt es: von derzeit 1,1 auf 2,0 bis 2,2 Prozent.

Und dabei sei der Corona-Katzenjammer im nächsten Jahr durch hohe Arbeitslosenzahlen und Nachholeffekte der Krankenhäuser noch gar nicht eingepreist. So braut sich der Orkan weiter zusammen – ein Finanzexperte im Bundestag hat sich angesichts der Unwägbarkeiten eine einfache Rechenformel verordnet: „Immer mit dem Schlimmsten rechnen.“

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