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Minister mit düsteren Aussichten: Ohne Staatshilfe für die Krankenkassen droht eine Beitragsexplosion.
© Oliver Dietze/dpa

Überlastung durch die Coronakrise: Krankenkassen droht Minus von mehr als 14 Milliarden Euro

Die Chefs gesetzlicher Versicherungen treffen sich mit Jens Spahn. Sie dringen auf mehr Steuerzuschüsse – denn ohne würden die Beiträge explodieren.

Das Treffen wird, wie üblich in diesen Zeiten, nur als Telefonkonferenz stattfinden. Aber es geht um Milliardensummen dabei. Und womöglich um folgenreiche Weichenstellungen. An diesem Montag, Start 17 Uhr, berät Gesundheitsminister Jens Spahn mit gut einem Dutzend Spitzenfunktionären der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), wie die Politik der finanziellen Überlastung des Gesundheitssystems durch die Coronakrise begegnen kann. 

Über allen Details wird dabei die Grundsatzfrage stehen, ob man jetzt auch noch den Krankenkassen, wo schon alle anderen Branchen nach Steuergeld rufen, durch üppige Zuschüsse aus der Notsituation heraushelfen soll. Oder ob man lieber hinzunehmen bereit ist, dass die Beiträge durch die Decke gehen. Und die bereits am Boden liegende Wirtschaft durch höhere Lohnnebenkosten noch zusätzlich belastet und am Aufschwung gehindert wird.

Die Versicherer haben sie sich für die Krisenrunde mit dem Minister gerüstet. Sie haben gerechnet und geschätzt, Handlungsbedarf formuliert, sich gegenseitig abgestimmt. Neben dem GKV-Spitzenverband ist schließlich auch jede Kassenart bei der Konferenz vertreten – und zwar sowohl mit je einem Verbandsobersten als auch mit dem Chef jeweils einer Mitgliedskasse. Da ist es nicht so leicht, mit einer Stimme zu sprechen. 

Doch es gibt einen Grundkonsens – und auch ein gemeinsames Positionspapier, das bereits im Ministerium liegt und die Basis des Gesprächs bildet. „Wir werden dem Minister die dramatische Finanzsituation schildern“, bringt es einer der Beteiligten auf den Punkt. „Und wir werden vehement höhere Bundeszuschüsse fordern.“

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Ohne Hilfe müssten die Beiträge steigen 

Zwar gibt es noch keine validen Zahlen für das erste, geschweige denn das zweite von Corona geprägte Quartal. Interne Schätzungen, in die der Tagesspiegel Background Einsicht nehmen durfte, machen die Nervosität der Kassenfunktionäre aber verständlich. Unterm Strich rechnet man in den Finanzabteilungen demnach mit einem Zusatzbedarf von mehr als 14 Milliarden Euro allein für 2020.

Wenn der Bund nicht einspringt, müsse sich der durchschnittliche Zusatzbeitrag für die Versicherten nahezu verdoppeln, heißt es: von derzeit 1,1 auf 2,0 bis 2,2 Prozent. Und dabei sei der zu erwartende Corona-Katzenjammer im nächsten Jahr, etwa durch hohe Arbeitslosenzahlen und Nachholeffekte der Krankenhäuser, noch gar nicht eingepreist.

Vor allem anderen werden bei Spahn aber wohl erst mal die aktuellen Kassennöte durch verspätete Zahlungen aus dem Gesundheitsfonds artikuliert. Die garantierten Zuweisungen – immerhin 21 Milliarden Euro pro Monat – müssten trotz hoher Einnahmeausfälle und Kosten für die Schutzschirme verlässlich und zeitnah ausgezahlt werden, drängen sie. Notfalls auch mit Hilfe eines Bundesdarlehens. 

Dass das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) eigene Liquiditätsengpässe weitergegeben und die Zahlung einzelner Tranchen um bis zu zwei Wochen verzögert habe, sei inakzeptabel. Schließlich seien die die Kassen von der Politik verpflichtet worden, ihre eigenen Rechnungen in der Coronakrise besonders zügig, nämlich innerhalb von fünf Tagen, zu begleichen. Und in Zeiten der Negativzinsen bunkere nun mal kein Versicherer Rücklagen auf dem Girokonto.

Ob Spahn den Kassen angesichts solcher Geldfluss-Verzögerungen wieder wie früher Kredite zur Überbrückung erlaubt? Die Fonds-Zuweisungen sind ihnen jedenfalls garantiert. Insofern wiegt das prognostizierte Finanzloch für 2020 schwerer. Auf 14,1 bis 14,6 Milliarden Euro beziffern es die Kassen in ihren internen Hochrechnungen. Interessanterweise schlagen die coronabedingten Zusatzausgaben für diese Schreckenssumme nur wenig zu Buche. Sie werden für 2020 lediglich auf 500 Millionen bis eine Milliarde Euro zusätzlich veranschlagt. Summa summarum allerdings, denn mitverrechnet sind hier gleich auch die enormen Einsparungen durch den anderweitig stark heruntergefahrenen Gesundheitsbetrieb in Kliniken und Arztpraxen.

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1,6 Milliarden nur für Corona-Tests

Ohne diese Gegenrechnung würden die Corona-Ausgaben anders anmuten. Allein die Behandlung von Infizierten in den Kliniken  –  die Kassen gehen für 2020 von mindestens 200.000 Fällen aus – schlügen für die GKV mit 1,3 Milliarden Euro zu Buche, rechnen die Kassenwarte vor. Der erhöhte Pflegeentgeltwert für die Kliniken verursache 3,3 Milliarden an Zusatzkosten, der angeordnete Verzicht auf die Prüfung von Krankenhausrechnungen weitere 1,1 bis 1,2 Milliarden. Und wenn man davon ausgehe, dass bis zum Jahresende 20 Millionen Menschen auf Corona getestet würden, seien dafür nochmal rund 1,6 Milliarden Euro aufzubringen.

Das alles relativiert sich durch die Ersparnisse, auch wenn viele der verschobenen Operationen nachgeholt werden müssen. Dafür machen den Kassen für 2020 zwei Posten weit größere Sorgen. Das eine sind die offensichtlich weit unterschätzten Folgekosten der vielen Gesundheitsreformen aus dem Hause Spahn. Das andere die wegbrechenden Beitragseinnahmen.

Weil der Schätzerkreis bei der Festlegung der Beiträge schon für 2019 zu optimistisch war, schleppen die gesetzlichen Versicherer bereits ein Minus von 1,6 Milliarden Euro aus dem Vorjahr herüber. Und 2020 wird es noch deutlich schlimmer. Der für dieses Jahr beschlossene Durchschnitt-Zusatzbeitragssatz von 1,1 Prozent sei „völlig illusionär“ gewesen, sagen Experten. Er hätte um 0,3 Punkte höher liegen müssen. Diese politisch gewollte Schönrechnerei lasse die Kassen nun mit weiteren sechs Milliarden Euro in die Miesen rutschen.

Auch ohne Pandemie hätte es ein Finanzproblem gegeben

Heißt: Es hätte also auch ohne die Pandemie in diesem Jahr schon ein Riesen-Finanzproblem für die GKV gegeben. Dazu kommt jetzt aber noch ein geschätztes Minus bei den Einnahmen von weiteren sechs Milliarden Euro aufgrund der Coronakrise. Die Beitragsausfälle durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit könnten sich auf zwei Milliarden summieren.

Zugrunde liegen dem die Annahme von 2,5 Millionen Kurzarbeitsgeld-Beziehern und 500.000 zusätzlichen Arbeitslosen. Der Rest sind gemutmaßte Folgekosten für die Beitragsstundungen, die zahlreichen Unternehmen und Selbständigen gewährt wurden und werden. Runde zwei Milliarden Euro gingen den gesetzlichen Versicherern dadurch allein in den Lockdown-Monaten März und April durch die Lappen. „Und wie viele dieser Firmen die gestundeten Beiträge niemals zurückzahlen, weil sie vom Markt verschwinden, weiß kein Mensch“, so ein Vorstands-Verantwortlicher.  

Wolfgang Greiner, Vize-Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, beschreibt das Dilemma, das die Kassen nun ereilt. Die Ausgabensteigerungen der vergangenen Jahre wären leicht über höhere Versichertenzahlen aufzubringen gewesen, sagt er dem Tagesspiegel Background. Doch kostentreibende Leistungsgesetze hätten „dauernde Ansprüche“ geschaffen. „Wenn nun die Arbeitslosigkeit steigt, die Versichertenzahl eher wieder sinkt und die Einkommen weniger stark steigen als in den Vorjahren, ergibt sich ein Finanzierungsproblem.“

Sachverständigenrat: Beitragserhöhungen reichen nicht

Dieses Problem allein durch Beitragserhöhungen lösen zu wollen, sei „in der Rezession kaum vorstellbar“, betont der Gesundheitsökonom. Zwar werde es vermutlich nicht ohne solche Anhebungen gehen. Denkbar wäre aus der Sicht des Sachverständigen Greiner etwa eine Steigerung um 0,5 Prozentpunkte. Gleichzeitig werde man aber den Steuerzuschuss von derzeit 14,5 Milliarden im Jahr „zumindest temporär“ erhöhen müssen. Und da die Wirtschaftskrise mit Ende 2020 kaum vorbei sei, müsse dieser Zuschuss wohl auch länger als ein Jahr gezahlt werden.

Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel, sieht das genauso. Das Problem des erhöhten Finanzierungsbedarfs dürfe „nicht allein den Beitragszahlern überlassen werden, sondern muss durch Steuergelder finanziert werden“, sagte der CDU-Politiker dem Tagesspiegel Background. Seine Begründung: Viele Kassenausgaben in der Coronakrise, wie etwa der Rettungsschirm für Krankenhäuser oder die Kostenübernahme von Covid-19-Tests, kämen der gesamten Gesellschaft zugute. Außerdem schadeten steigende Lohnnebenkosten in einer Rezession zusätzlich. Er könne sich hier „durchaus eine mehrjährige Ausweitung des Bundeszuschusses vorstellen“, stellt der Unionspolitiker klar.

Man könnte auch mit notwendiger „Gefahrenabwehr“ argumentieren, die Aufgabe des gesamten Staates und nicht bloß der Beitragszahler sei. Oder an die Finanzkrise von 2009 erinnern, in der sich die sprunghafte Erhöhung des Bundeszuschusses von 7,2 auf 15,7 Milliarden als enorm stabilisierend erwiesen hat. Und womöglich wird es auch gar nicht so schwer, den Gesundheitsminister hier auf die Kassenseite zu ziehen, denn die zusätzlichen Steuermilliarden hätte ja nicht er, sondern Finanzminister Olaf Scholz bereitzustellen.

CDU-Politiker fordert auch Steuerzuschuss für Pflege

Denkbar ist sogar, dass Spahn die Gelegenheit ergreifen könnte, um mit Staatshilfe endlich und in einem Aufwasch eine weitere Säule des Sozialsystems stabilisiert zu bekommen. Unter Experten ist die Notwendigkeit eines Bundeszuschusses für die Pflegeversicherung schon seit längerem Konsens. Bislang gebe es diesen dort nur noch nicht, weil die Pflegekassen bisher „fast keine versicherungsfremden Leistungen“ erbrächten, sagt Greiner. Er meint aber auch: „Da könnte sich die Argumentationslage durch Verweis auf Corona ändern.“

Rüddel jedenfalls findet, dass man jetzt „zumindest über einen einmaligen Corona-Zuschuss für die Pflege sprechen“ müsse. „Dass die Leistung der Pflegekräfte mit einem Sonderbonus honoriert wird, halte ich für absolut angemessen“, sagt der Parteifreund von Spahn. Und fügt hinzu: „Auch an dieser Stelle bin ich der Meinung, dass dies eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung ist.“

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